Nachruf auf eine Rose
Dadurch, dass ihr Vater sie regelmäßig missbraucht hat, hat sie gelernt, ihn zu manipulieren, um seine Gewalttätigkeit ihr gegenüber in Grenzen zu halten. Und dieser Eigenschaft hat sie es zu verdanken, dass es ihr seitdem in jeder Lebenslage gelungen ist, sich über Wasser zu halten. Auch in den Jahren, die sie in Pflege war. Nur dadurch hat sie überlebt.»
«Aber sie hat doch niemals versucht, Sie zu manipulieren.»
«Doch, das hat sie. Aber es hat nicht funktioniert. Als ich auf der Bildfläche erschien, wurde ich für sie zum mächtigsten Mann in ihrem Leben. Ihr Schicksal liegt sozusagen in meinen Händen: der Durchsuchungsbefehl, der Haftbefehl. Sie muss verzweifelt überlegt haben, wie sie mich in den Griff bekommt.»
Nightingale fühlte Übelkeit in sich aufsteigen.
«Wenn Sie das glauben, warum sind Sie dann nicht gleich nach Wainwright Hall gefahren?»
Sie hatte nicht die Absicht, ihm einen Vorwurf zu machen, doch da sie Mühe hatte, sich zu beherrschen, hatte ihre Frage einen harten Beiklang. Zu ihrer Bestürzung sah sie, wie er zusammenzuckte.
«Ja, glauben Sie denn, ich würde nicht wollen? Doch im Moment sind das alles nur vage Vermutungen. Ich habe keinerlei Beweis dafür, dass Sally Bess entführt hat. Wenn sie es nicht war und ich dort einfach so hereinplatze, ist das ein gefundenes Fressen für die Verteidigung. Wenn sie es aber war und ich mich nicht gründlich vorbereite, dann könnte ich dadurch Bess’ Leben in Gefahr bringen.»
Nightingale konnte ihn nur bewundern. Was musste es ihn an Kraft kosten, hier so nüchtern und scheinbar unbeteiligt über die Sache zu sprechen?
«Ich muss den Superintendent dazu bringen, mir Rückendeckung zu geben. Wir brauchen ein Expertenteam, eine schnelle Einsatztruppe, und der Assistant Chief Constable wird nicht gerade erfreut sein, wenn er hört, dass Wainwright’s involviert ist. Ich kann mir keine Fehler erlauben, Nightingale.»
«Aber Kindesentführung …»
«Das scheint extrem, doch was bleibt mir anderes übrig? Wir wissen jetzt sicher, dass sie bereits mindestens einen Mord begangen hat. Und nun ist die Polizei ihr dicht auf den Fersen, deckt Verbindungen auf, von denen sie geglaubt hatte, dass nie ein Mensch darauf kommen würde. Und das Ablenkungsmanöver funktioniert! Sehen Sie doch nur, wie sie unsere Ermittlungsarbeit durcheinander gebracht hat. Wenn man genauer darüber nachdenkt, dann kann eigentlich nur Sally die Person sein, die wir suchen. Und nun, da ihr Mann nicht da ist, kann sie tun und lassen, wonach ihr der Sinn steht.»
Nightingale sagte nichts. Fenwick hatte offenbar alles gründlich durchdacht. Er nahm einen Stift und markierte die Schlüsselpassagen in Claire Keatings Gutachten und in den Vernehmungsprotokollen von Sally und ihrem Mann.
«Ich glaube, das genügt. Kommen Sie, Nightingale, Sie können mich zum Präsidium fahren. Ich sage nur schnell Wendy Bescheid.»
Als er gegangen war, legte Nightingale kurz die Hände vors Gesicht. Nun, wo er ihr so allein vorkam, so ausgeliefert, so voller Schmerz, konnte sie ihre Gefühle für ihn nicht länger leugnen. Das war keine bloße Verliebtheit oder das Fixiertsein auf eine Vaterfigur.
Sie hörte ihn im Treppenhaus leise sprechen; er erklärte Wendy, dass seine Mutter auf dem Weg hierher sei und sie spätestens in ein paar Stunden da sein müsste. Nightingale schluckte den dicken Kloß in ihrem Hals herunter und straffte die Schultern. Eine Uhr schlug eins, und mit einem Mal wurde ihr die ganze schmerzliche Realität bewusst.
«Also auf geht’s. Wir nehmen Ihren Wagen.»
Während sie durch die kühle Nacht fuhren, nahm Nightingale ihren ganzen Mut zusammen und brachte ihre Zweifel zur Sprache.
«Wie soll Sally die Entführung denn geplant haben? Sicher wusste sie, dass Chris und Bess von einem Kindermädchen betreut werden.»
«Ich nehme an, das war für sie bedeutungslos. Erinnern Sie sich, dass Sallys Mutter völlig machtlos gegen ihren Mann war. In Sallys Welt zählen Frauen einfach nicht.»
«Wo sollte sie sie verstecken?»
Fenwick schüttelte den Kopf. «Ich weiß nicht, das Anwesen ist groß … Da gibt es diesen Turm mit einem Turmzimmer. Sallys kleinere Geschwister wurden in so einer Kammer unter dem Dach eingesperrt und erst entdeckt, als es bereits zu spät war.»
«Warum können wir nicht einfach hinfahren und ihr ein paar simple Fragen stellen?»
«Es ist ein Uhr morgens. Denken Sie daran, wie Sally reagiert, wenn sie sich bedroht fühlt. Sie ist
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