Nachspielzeit: Eine unvollendete Fußballkarriere (German Edition)
dem Platz lässt er das Denken einfach nicht sein. Genau das ist der große Haken. Selbst unmittelbar während des Spiels grübelt er über begangene Fehler und verschiedenste Szenarien, die passieren könnten. Denn ihm fehlt die natürliche Intuition auf dem Platz, Dinge automatisch und aus dem Bauch heraus richtig zu machen. Die Kreativität wird ihm von seinen Gedanken genommen. Weil er im Kopf nur selten frei ist, fühlt er sich dazu häufig in Drucksituationen überfordert. Aus diesen Gründen kann der Denker nie sein gesamtes Potenzial ausschöpfen.
4. Der Schizophrene
Zwei völlig verschiedene Charaktere vereint in einer Person, das ist der Schizophrene. Auf dem Platz ist er eine positive Mischung aus dem Dummen und dem Hochmütigen. Er hat die Fähigkeit, seinen Kopf, wie auf Knopfdruck, auszuschalten, und spielt unbekümmert drauflos. Gleichzeitig weiß er während des Spiels um seine Stärke und tritt dementsprechend selbstbewusst auf. Nach dem Abpfiff knipst der Schizophrene seinen Verstand wieder an und verwandelt sich in den Denker. Er ist also im normalen Leben intelligent, bodenständig und lernwillig. Der Schizophrene vereinigt die Vorteile der anderen drei Gruppen, ohne deren Defizite zu übernehmen. Er ist, rein psychologisch betrachtet, der perfekte Fußballer.
Ein gutes Beispiel für den Schizophrenen ist Thomas Müller. Ein freundlicher, schlauer Kerl, der sich aber auf dem Platz überhaupt keinen Kopf macht. Er ist einer der ganz wenigen Spieler, die sich von so gut wie gar nichts in ihrem Glauben an die eigene Stärke erschüttern lassen. Thomas ist in der Lage, eine halbe Stunde lang Mist zu spielen und völlig abzutauchen, aber dann doch die eine entscheidende Aktion zu starten. So war er schon immer. Ich bildete bei den Amateuren gemeinsam mit ihm die rechte Seite. Es gab Spiele, in denen er in der ersten Halbzeit annähernd der schlechteste Mann auf dem Platz war, weil ihm einfach nichts gelang. Die meisten Spieler wären an so einem Tag mit einer miesen Leistung nach Hause gefahren. Bei Thomas aber konnte man die Uhr danach stellen, dass er doch noch irgendetwas Zählbares zustande brachte. Und nicht selten avancierte er nach einer starken zweiten Hälfte mit einem oder zwei Toren doch noch zum Matchwinner.
Heute spielt er über das gesamte Spiel gesehen wesentlich konstanter und auffälliger, ohne dabei seine Qualität verlernt zu haben, wie aus dem Nichts zuzuschlagen. Seine Bewegungen sind stilistisch gesehen sicher keine Augenweide, vielmehr wirken sie bisweilen äußerst unorthodox. Die Stutzen hängen dabei nach einer Weile auf Halbmast wegen seiner spindeldürren Beinchen. Doch irgendwie macht er fast immer das Richtige, verliert dabei so gut wie nie den Überblick und spielt unglaublich effektiv.
Vor etwas mehr als einem Jahr liefen wir gemeinsam in Bayern Münchens zweiter Mannschaft auf den Rasen, heute ist Thomas amtierender Torschützenkönig einer Weltmeisterschaft. Und ich schüttele schmunzelnd den Kopf, wenn ich ihn in der Fernsehwerbung gemeinsam mit unserem damaligen Co-Trainer Gerd Müller herumturnen sehe oder er mir irgendwo in der Stadt von überdimensionalen Werbeplakaten entgegengrinst. Dass er seine Fähigkeiten in dermaßen kurzer Zeit so stark weiterentwickeln würde, war in der Form nicht annähernd zu erwarten. Aber dass er es mal, vor allem aufgrund seiner psychischen Stärke, weit bringen würde in diesem Geschäft, darauf hätte ich schon vorher eine Menge Geld gesetzt.
Wenn man als Fußballer schizophren veranlagt, also ganz im Gegensatz zu der realen Krankheit mit all diesen positiven Eigenschaften gesegnet ist, ist das noch lange kein Freifahrtschein für die große Karriere. Schlimme Verletzungen oder, ganz banal, mangelndes Talent können jedem Spieler einen Strich durch die Rechnung machen. Doch würde ich behaupten, dass dieser Typ Sportler, oder besser gesagt Mensch, die mit Abstand beste Chance besitzt, in den erlauchten Kreis derer zu gelangen, die den Durchbruch schaffen.
Paradox: der Kopf als häufig entscheidender Faktor im Fußball. Allerdings weniger körperlich, wie in diesem Luftduellgegen meinen Gegenspieler, sondern mental betrachtet.
Die genannten Gruppen sind keine festen Schablonen, die auf jeden Spieler genau passen. Sie bilden einen fließenden Übergang untereinander. Es ist durchaus möglich, von einer Sparte in die nächste zu rutschen oder zu gewissen Anteilen mehreren Gruppen anzugehören. Besonders die äußeren
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