Nachsuche
habe einfach nicht mehr gewusst, was ich tun soll.«
»Sie hätten die Polizei verständigen können, wenn Sie nicht der Mörder sind. Oder einfach wieder gehen«, wirft Noldi ein.
»Nein, konnte ich nicht«, erwidert Kevin heftig. »Verstehen Sie, es ist eine Sache, sich etwas auszudenken, aber wenn es dann schon passiert ist, bevor Sie noch etwas tun, kommt das Programm durcheinander und der Computer hängt sich auf. So war das. Ich hatte plötzlich keine Ahnung, ob ich sie umgebracht hatte oder nicht. Das Einzige, was mir eingefallen ist, war, Programm weiter ausführen. Das habe ich gemacht. Alles genau so, wie ich es vorher geplant hatte.«
»Das heißt, Sie haben die Frau umgebracht«, sagt Noldi.
»Nein, nein«, ruft Kevin, »so war es nicht!«
Er schaut Noldi mit einem Blick an, den dieser nicht recht deuten kann. Und im nächsten Moment ist er weg, so blitzartig, dass Noldi den Mund erst zuklappt, als draußen ein Motor aufheult.
Aber auch Noldi ist schnell. Er rast durch den Flur, reißt das Handy heraus, fordert Verstärkung an, wirft sich ins Auto. Er hat den Flüchtigen schon auf der Tösstalstrasse vor der Migros eingeholt. Dort beim Abbieger zum Parkplatz gibt es den üblichen Stau. Noldi hält hinter Pfähler, will aus dem Auto steigen, ihn stellen. Da bricht Kevin über den Gehsteig aus und rast mit quietschenden Reifen davon. Fast hätte er dabei einen Mann mit Einkaufswagen gerammt. Der springt gerade noch zur Seite und Kevin streift nur das Gefährt, das mit lautem Scheppern zur Seite kippt.
In Rikon hat Noldi Kevins Wagen wieder vor sich. Da will gerade ein Mönch in seiner weinroten Robe die Straße überqueren, mustergültig auf dem Fußgänger-Streifen. Noldi verflucht Fußgänger-Streifen im Allgemeinen, diesen im Besonderen und, mit schlechtem Gewissen, alle roten Roben dazu und reißt einen filmreifen Stopp. Der Mönch lächelt huldvoll, betritt die Straße, die Hand segnend erhoben. Da gibt es einen furchtbaren Knall, Noldis Auto macht einen Satz, wirft die weinrote Gestalt um, die in hohem Bogen auf die Straße fliegt.
Benommen steigt Noldi aus. Der Einsatzwagen, den er zur Verstärkung angefordert hat, ist mit Blaulicht von der Brücke her im vollen Karacho in die Tösstalstrasse eingebogen und hat sein Auto gerammt. Er stößt einen Fluch aus so lang, dass ihm die Luft ausgeht. Der Mönch liegt auf der Straße, ist aber bei Bewusstsein. Noldi hilft ihm behutsam auf die Beine. Er blutet aus Mund und Nase, sagt nicht viel. Aus Cesars Bar kommt der Wirt gerannt und bringt einen Stuhl. Vorsichtig setzen sie den Verletzten darauf. Auf der Straße liegt noch seine Brille. Noldi hebt sie auf, sie ist zerbrochen. Der Mönch hustet, spuckt Blut und zwei Zähne aus. Wie sich herausstellt, hat er zum Glück ein Gebiss. Der linke kleine Finger steht in einem unnatürlichen Winkel von der Hand ab.
Schaut aus, denkt Noldi, als wäre er gebrochen. Sonst scheint nicht viel passiert zu sein.
Aus dem hinteren Wagen sind inzwischen die Polizisten gekrochen und stehen mit hängenden Ohren herum. Einer blutet ebenfalls aus der Nase. Noldi brüllt sie an: »Verdammt noch einmal, ruft einen Krankenwagen, aber sofort!«
Schon hat sich eine Traube von Schaulustigen um sie versammelt. Jemand ist so geistesgegenwärtig, weiter hinten den Verkehr aufzuhalten. Drei junge Männer stehen vor den Polizeiautos. Noldi kann sie lachen hören. Schadenfreude, denkt er. Tut doch jedem gut, wenn so etwas der Polizei passiert. Dann sieht er plötzlich Kathi, die Tibeterin. Sie kniet hinter dem jungen Fahrer des zweiten Wagens am Straßenrand und massiert sein Genick.
Noldis Wut schwillt erneut an. Er bellt: »Kathi, was machst du da?«
»Ich leiste Erste Hilfe«, antwortet sie ernst. »Der Ärmste hat ein Schleudertrauma. Man muss etwas tun.«
»Dort sitzt der Verletzte«, knurrt Noldi, »siehst du das nicht?«
»Seh’ ich schon, geht nicht«, antwortet sie. »Keine Frau darf einen Mönch berühren.«
Noldi verwirft die Arme und wartet, bis der Krankenwagen eintrifft. Er sorgt dafür, dass der Verletzte, der sich inzwischen ein wenig erholt hat, ins Krankenhaus gebracht wird.
Nachdem das Unfallprotokoll geschrieben ist, schickt Noldi auch die Kollegen mit dem anderen Einsatzwagen weg. Er setzt sich in sein zum Glück nur leicht beschädigtes Auto. Ohne lange zu überlegen, fährt er nach Sirnach ins Blechparadies. Nicht, dass er viel Hoffnung hätte, Kevin dort zu finden. Aber irgendwo muss er weitermachen,
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