Nachsuche
soll ihm etwas zu essen bringen. Er habe sich dort oben vor Ihnen versteckt. Er sagte: ›Da finden die mich nie. Keiner weiß von diesem Haus.‹ Als ich hingekommen bin, haben wir sofort angefangen zu streiten. Er hat verlangt, ich soll schwören, dass ich kein Mann bin. Das habe ich getan, aber es reichte nicht. Er hat mir nicht mehr geglaubt. Auf der anderen Seite hat er auch nicht geglaubt, was Berti ihm gesagt hat. Er war völlig durcheinander, hat angefangen, mich zu schlagen, ins Gesicht, überall hin. Ich bin weggelaufen, in die Werkstatt. Er mir nach, hat wieder angefangen, wer ich sei. Ich habe gesagt: ›Ich bin deine Frau.‹ Da ist er völlig ausgerastet, hat mich am Hals gepackt und zugedrückt.«
»Und das Messer?«, fragt Noldi.
»Das habe ich erwischt. Hinter mir irgendwo, auf der Werkbank, glaube ich, ich weiß es nicht mehr.«
Kevin Pfähler war eigentlich ein ganz normales Kind. Die Mutter, eine schmale, hochgewachsene Frau, schwebte fröhlich, aber leicht abwesend durch das Haus. Der Vater dagegen war ein polternder Koloss. Er betrieb mit großem Schwung seine Autowerkstatt, trank hin und wieder ein Glas über den Durst. Zwischen diesen beiden wuchs Kevin auf. Es gab keine besonderen Vorkommnisse. Als er zwölf war, schlugen er und sein bester Freund im Wald eine Katze tot. Die Jungen bewarfen sie so lange mit Steinen, bis sie blutüberströmt liegen blieb. Aber sonst war Kevin mit seiner offenen und geselligen Art eine Seele von Kind. In der Schule hatte er keine Schwierigkeiten. Er war nie besonders gut, aber immer solider Durchschnitt. Ursprünglich wollte er Informatiker werden. Mit vierzehn bastelte er seinen ersten Computer zusammen. Als sein Vater verlangte, dass er eine Mechaniker-Lehre mache, fügte er sich ohne Widerspruch. Daneben durfte er auch Informatikkurse besuchen.
Kaum war er mit der Lehre fertig, starb sein Vater. Er lag unter einem Auto, als ihn eine Wespe ins Augenlid stach. Er schlug vor Schmerz um sich und trat dabei den Wagenheber um. Kevin und die Mutter zerrten ihn unter dem Wagen hervor.
Obwohl die Ärzte versicherten, dass die Verletzungen nicht lebensgefährlich seien, starb er nach zwei Tagen im Krankenhaus. Seine Frau hatte ihn am Abend vorher besucht und dem Sohn berichtet, der Vater sei klar im Kopf gewesen, habe mit ihr gesprochen und zum Abschied gewunken.
Als Kevin am nächsten Morgen ins Krankenhaus kam, fand er das Bett leer. Erst dachte er, sie hätten den Vater verlegt, doch vom Zimmernachbar erfuhr er, dass er in der Nacht verstorben sei. Er verlangte den diensthabenden Arzt zu sprechen. Als dieser vor ihm stand, fragte er: »Warum haben Sie uns nicht verständigt?« Dann knickte er plötzlich ein und fiel nach vorne. Dabei rammte er dem Doktor die Faust hart in den Magen. Er rappelte sich rasch hoch und entschuldigte sich zuckersüß.
Er übernahm die Werkstatt des Vaters. Die Mutter heiratete überraschend schnell wieder und zog mit ihrem zweiten Mann nach Cuxhaven, wo sie sich fühlte, als hätte sie schon immer am Meer gelebt. Sie bekam noch ein spätes Kind und vergaß den Sohn. Kevin bemühte sich nicht um den Kontakt. Einmal raffte er sich auf und besuchte sie in ihrer neuen Heimat. Es war ein freundliches Treffen. Der Stiefvater und die Halbschwester, ein Schulmädchen, zeigten ihm die Stadt. Die Mutter schloss sich ihnen nicht an. Sie strich ihrem Sohn einmal mit der Hand durch die blonden Haare und sah ihm lächelnd ins Gesicht, die Liebkosung blieb jedoch flüchtig. Kevin wiederholte den Besuch nicht. Er beschränkte sich pflichtschuldig auf die alljährliche Weihnachtskarte, nicht immer erhielt er eine Antwort. Er lebte allein in der Wohnung über der Werkstatt, hatte Freundinnen, aber keine der Verbindungen hielt. Bis er Corinna traf.
Nicht einmal nach dem Tod des Vaters sagte ihm die Mutter, dass er das Kind eines anderen sei. Als er den Brief des Notars aus Turbenthal las, hielt er die Sache für einen Irrtum. Selbst nachdem er das Erbe angenommen hatte, bezweifelte er immer noch, dass der Mann, welcher ihm das Haus in Neugrüt vermacht hatte, wirklich sein Vater gewesen sei. Aber Kevin war ein Pragmatiker, er fuhr einmal nach Neugrüt, besah sich die Ruine und vergaß sie wieder, bis er ein Versteck für die Sachen brauchte, die er aus Bertis Wohnung mitgeschleppt hatte.
Am Tag nach Pfählers Tod um sechzehn Uhr kommt Shishi Tade auf den Polizeiposten Winterthur, um das falsche Alibi für Kevin zu Protokoll zu geben.
Noldi
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