Nachsuche
sein. Oder war es ein Verkehrsunfall? Sie war nicht gerade eine begnadete Autofahrerin. Was ist passiert?«
»Wir wissen es nicht genau. Ihre Leiche wurde vor zehn Tagen im Wald im Neubrunnertal gefunden.«
»Nein«, sagt Niederöst. »Dass Berti in den Wald geht, ist etwas ganz Neues.«
»Kennen Sie sie gut?«
»Gut ist übertrieben, aber lang. Herr Walter hatte eine sehr seltene Krankheit, und mein Vater betreute ihn medizinisch. Die beiden waren sozusagen befreundet. Als ich nach dem Tod meines Vaters die Praxis übernahm, wurde er für die kurze Zeit bis zu seinem Ableben auch mein Patient, ebenso Berti. Sie hat Diabetes, schon von Kind auf, nicht wirklich schlimm, aber seit einiger Zeit muss sie regelmäßig Insulin spritzen. Mit Tabletten war nichts mehr zu machen. Sie hat sich kaum an irgendetwas gehalten. Keine Diät und nichts.«
Inzwischen sind die beiden Männer im Besprechungsraum der Polizei gelandet. Noldi holt Kaffee aus dem Automaten. Der Doktor trinkt ihn schwarz und ohne Zucker.
Noldi rührt heftig in seinem Becher. Dann schaut er dem Arzt direkt in die Augen.
»Sie lag nur mit einer zerrissenen Spitzenunterhose bekleidet in einem Brombeergestrüpp.«
Niederöst senkt den Blick und schweigt. Lange. Als er den Kopf wieder hebt und Noldi ansieht, sagt er: »Das kann nicht Berti Walter sein. Das glaube ich nicht.«
Noldi weicht aus.
»Ich wäre froh, wenn Sie mitkämen nach Zürich ins Institut für Rechtsmedizin. Dann hätten wir endlich Gewissheit. Angehörige konnten wir bis jetzt keine finden.
»Sie hat keine. Zumindest nicht in der Schweiz. Ihr Vater kam ursprünglich aus Deutschland.«
Sie entscheiden, mit Noldis Wagen zu fahren. Unterwegs ist Niederöst schweigsam. Noldi bekommt auf all seine Fragen nur einsilbige Antworten.
Was ist ihm so auf den Magen geschlagen?, überlegt er. Wie wir sie gefunden haben? Dass sie nackt war? Anfangs war er so mitteilsam. Und jetzt? Der augenfällige Stimmungsumschwung bewirkt, dass ihm die wildesten Theorien durch den Kopf gehen. Warum hat er erst auf die Erwähnung der Umstände, wie man sie gefunden hat, reagiert, nicht aber auf ihren Tod? Wenn sie an einer Überdosis Insulin gestorben ist und sich diese nicht selbst verabreicht hat, wäre ein Arzt als Täter denkbar. Nur, warum sollte dieser elegante Doktor eine Patientin umbringen? Hätte sie ihm gefährlich werden können? So gefährlich, dass er an Mord denkt? Zugegeben an einen, der kaum nachweisbar ist. Außer er hat Spuren hinterlassen, eindeutige Spuren. Ein paar Fingerabdrücke in der Wohnung würden kaum genügen. Er war der behandelnde Arzt. Wozu schleppt er sie also in den Wald? Die Sache mit dem Wald, denkt er, das ist der Knackpunkt. Er kann sich nicht vorstellen, dass Niederöst sich zu einer so unbedachten Eskapade hinreißen ließe. Dazu ist er zu klug, zu selbstsicher.
Im Institut für Rechtsmedizin werden sie schon erwartet. Niederöst trifft auf dem Gang einen Kollegen, den er vom Studium her kennt. Er wechselt lachend mit ihm ein paar Worte im Vorbeigehen, folgt Noldi aber sofort in den Autopsieraum.
Noldi war schon früher ein paar Mal hier. An seinen ersten Besuch erinnert er sich nur ungern. Damals hatte er auf einmal das unerklärliche Bedürfnis, blöde Witze zu reißen. Über diese Albernheiten ist er zum Glück hinweg. Er fand heraus, dass er mit seinem Unbehagen besser fertig wird, wenn er alles an dem Ort möglichst bewusst wahrnimmt. So schaut er sich auch jetzt aufmerksam um, aber er findet nichts, worauf er sich konzentrieren könnte. Zwei Tische sind belegt, nur arbeitet im Moment niemand daran. Dafür ist er dankbar. Das Geräusch der Knochensäge erträgt er schlecht und noch weniger den Geruch. Er atmet durch den Mund, wie man es ihm geraten hat, aber es bereitet ihm Mühe.
Als der Pathologe eines der Kühlfächer öffnet und mit scheinbarer Leichtigkeit eine Bahre herausgleiten lässt, hält Noldi den Atem an. In der Stille hört er den Doktor schnaufen. Ein einziges Mal. Dann liegt die Leiche auf ihrem Schragen aus Chromstahl vor ihnen, klein, dick und schon seit acht Tagen tot. Noldi empfindet eine seltsame Art von Ärger, der vielleicht auch Angst ist, und dazu noch etwas, Verantwortung vielleicht. Er konnte sich die Tote schon im Wald nicht als lebende Frau vorstellen und jetzt erst recht nicht. Vielleicht, denkt er flüchtig, bedauert er sie dafür. Er fragt sich, wie es Niederöst ergeht, der sie gekannt hat. Ihm scheint, dass der Arzt eher
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