Nachsuche
ein.
»Auch das bedeutet, dass derjenige ihr sehr nahe gekommen ist.«
Dann zögert er. Er weiß nicht, ob er Niederöst seine Schlussfolgerung mitteilen soll. Denn der kommt in eben diesen Überlegungen als Täter durchaus infrage.
Als hätte er Noldis Gedanken gelesen, sagt Niederöst: »Sie meinen, es könnte sich bei dem möglichen Täter um einen Arzt oder jemanden vom Pflegepersonal handeln.«
»Ja«, sagt Noldi.
Dann betrachtet er die Leiche noch einmal, bevor er sie fürsorglich zudeckt und das Laken auf allen Seiten gleich zieht. Dabei stößt er aus Versehen an ihren Oberarm, der sich kalt und fremd anfühlt. Für den Bruchteil eines Gedankens ärgert ihn diese Fremdheit. Dann geht ihm durch den Kopf, dass die Ärmste nur mehr mit Sägespänen gefüllt ist.
Gemeinsam verlassen sie das Institut für Rechtsmedizin. Erst auf dem Weg zum Parkplatz fragt Noldi: »Gibt es jemanden, den man verständigen muss?«
»Nicht, dass ich wüsste«, antwortet Niederöst.
»Wer profitiert sonst von ihrem Tod?«, bohrt Noldi weiter.
»Auch da bin ich überfragt.«
Damit wechselt Niederöst kommentarlos das Thema. Er erkundigt sich, wie es dazu kam, dass sie Berti dort im Wald gefunden haben. Als Noldi von dem Unfall mit dem Reh erzählt, stellt sich heraus, dass der Doktor ein passionierter Jäger ist.
Noldi erklärt, sein Schwager sei Jagdaufseher im Neubrunnertal. Niederöst erwidert lebhaft, er kenne das Revier, habe dort schon selbst als Gast gejagt.
Sie unterhalten sich darüber, wie viele Rehe jährlich geschossen werden, und wie viele durch Verkehrsunfälle umkommen. Der Doktor erzählt von der Jagd. Er war schon fast überall auf der Welt, in Kanada, Argentinien, Polen, Russland. Das größte Tier, das er jemals erlegt habe, sagt er, sei ein Grizzly gewesen.
Er ist wieder mitteilsam und gesprächig, witzig, berichtet lebhaft und deklamiert sogar ein Gedicht über die Jagd, das er selbst verfasst hat. Er sei ein Bewunderer der schönen Künste, sagt er. Besonders die moderne Malerei habe es ihm angetan.
Noldi will das Gespräch wieder auf Berti lenken. Er hat noch viele Fragen. Er wartet, bis Niederöst eine Pause macht. Dann sagt er eilig: »Auf der Fahrt nach Zürich waren Sie so schweigsam, Doktor. Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen?«
Niederöst überlegt. »Eigentlich nichts«, antwortet er endlich. »Ich habe kurz daran gedacht, wie ich sie das erste Mal gesehen habe. Sie war damals zwölf. Ich hatte eben mein Studium begonnen. Vater spielte mit dem Gedanken, nach Brütten zu ziehen, einerseits wegen der guten Lage und andererseits wegen des niedrigen Steuerfußes. Der alte Walter hatte neben dem Grundstück, auf dem sein Haus stand, noch Land. Durch den Bauboom war es plötzlich ein Vermögen wert, und er beabsichtigte, einen Teil zu verkaufen. Mein Vater nahm mich zur Besichtigung mit. Wir saßen mit Herrn Walter zusammen, die Männer redeten über den Handel. Ich langweilte mich. Berti kam ins Zimmer, brachte etwas zu trinken. Es war ein heißer Tag im Juni. Sie sagte zu mir: »Soll ich dir meine Erdbeeren zeigen?«
»Später, Berti«, sagte ihr Vater, »später.« Sie nickte gleichgültig, ging aus dem Raum. Der Landkauf kam übrigens nicht zustande. Und ich habe Berti Jahre nicht mehr gesehen.«
»Aber ihr Vater war doch der Arzt von Eugen Walter«, sagt Noldi erstaunt.
»Ja, aber erst später. Dann blieb er es bis zu seinem Tod. Mein Vater starb an einem Herzinfarkt, bevor er sein Pensionsalter erreicht hatte. Ich tingelte nach dem Studium als Assistenzarzt durch verschiedene Spitäler im In- und Ausland und musste sofort zurück, die Praxis übernehmen. Da sah ich Berti und ihren Vater wieder.«
»Und jetzt?«, hakt Noldi begierig ein, »Wann haben Sie sie vor ihrem Tod zum letzten Mal gesehen?«
»Das ist eine Weile her. Lassen Sie mich nachdenken. Sie kam in die Sprechstunde, wie immer unangemeldet, wollte nur schnell ein neue Ladung Insulin. Ich gab ihr immer eine Zweimonatsration mit einer gewissen Reserve, falls sie zusätzlich spitzen musste. Meine Praxishilfe kannte sie und ließ sie zwischen zwei Patienten herein. Ich fragte nur: »Alles in Ordnung?«, und sie bejahte. Normalerweise bin ich gründlicher, aber ich war mit meinem Zeitplan in Verzug. Deshalb gab ich ihr die Packungen und sie ging wieder.«
Noldi würde jetzt gern fragen: »Und wo waren Sie, als sie starb?« Doch das konnte warten. Wenn der Doktor es war, bekommt er so nur Zeit, sich Finten auszudenken.
Weitere Kostenlose Bücher