Nachsuche
wieder.
»Erstens«, antwortet Meret nachsichtig, »ist sie unglücklich. Das sieht jeder. Zweitens braucht sie Aufmerksamkeit. Sie ist ehrgeizig und verlangt von sich zu viel. Sie war zuerst Leichtathletin, und als das nicht so funktionierte, wie sie wollte, hat sie sich auf das Schießen verlegt. Das bringe ihr mehr, sagt sie. Und, das sage ich jetzt, da ist ihr als Frau die Aufmerksamkeit der Männer sicher. Die braucht sie. Jemand heimlich mit einer Spritze zu töten, niemals.«
In dem Moment donnert der sogenannte Geisterzug an ihnen vorbei, leer und dunkel. Nur die roten Schlusslichter leuchten.
Noldi schaut ihnen nach.
»Du wärst eine gute Profilerin«, sagt er dann und lacht.
Meret lacht auch. Sie fragt: »Gehst du trotzdem jetzt endlich mit mir ins Bett?«
Bertis Coiffeursalon liegt genau gegenüber vom Dominikanerinnenkloster und besteht aus einem nicht besonders großen Raum mit Fenstern auf zwei Seiten. Als Noldi dort ankommt, wird er bereits erwartet. Eine ältere Frau steht in der offenen Tür. Sie ist klein, von den Jahren bereits ganz leicht gebeugt. Sie trägt enge schwarze Leggins und rosa Turnschuhe. Das weiße Oberteil lässt im Ausschnitt einiges von ihrer Brust sehen. Trotz der Falten wirkt ihr Gesicht noch jugendlich. Sie ist sorgfältig, aber dezent zurechtgemacht mit silbernen Augenlidern und zartrosa Lippen. Die dünnen Haare sind kastanienbraun. Natürlich gefärbt, denkt Noldi.
Sie streckt ihm die Hand hin.
»Elsbeth Wehrli«, stellt sie sich vor. »Meine Kollegin Mariola kommt gleich. Sie hat noch eine Kundin.« Damit deutet sie in den Laden.
Noldi schaut in die angegebene Richtung und sieht tatsächlich über einem der Coiffeurstühle an der hinteren Wand einen grauen Kopf mit Lockenwicklern.
Elsbeth Wehrli führt ihn zu einem Tischchen. Daneben steht ein überdimensionaler Blumentopf mit einer Palme.
Noldi fragt sich, ob sie echt ist.
Elsbeth Wehrli packt noch so gerne aus. Viel ist es jedoch nicht, was sie über ihre Chefin zu erzählen weiß.
Berti Walter, berichtet sie, sei nach Weesen gezogen, weil sie dieses Coiffeurgeschäft kaufen konnte, den Salon ›Frisco‹. So habe ihn bereits der vorige Besitzer genannt. Man wollte damals einen Namen, der etwas mit Frisur zu tun hat, und daraus sei dann ›Frisco‹ geworden. Die Geschäftslage direkt im Zentrum sei gut. Sie, Elsbeth Wehrli, habe schon unter dem vorigen Besitzer mit einer Kollegin hier gearbeitet.
»Das heißt, mit dem Chef«, sagt sie, »waren wir drei. Für mehr ist einfach kein Platz.«
Berti sei bereit gewesen, beide Angestellten zu übernehmen. Doch die Kollegin, die ein Verhältnis mit dem Chef hatte, wollte ohne ihn nicht bleiben. Der Laden, sagt Elsbeth, sei soso lala gelaufen. Das habe sich aber schnell geändert, sobald Berti übernommen habe.
Auf ihre, Elsbeth Wehrlis, Empfehlung habe sie Mariola angestellt. Sie unterbricht sich, ruft nach hinten: »Mariola, nur einen Moment.«
Die andere kommt gelaufen.
»Ich bin die Mariola«, stellt sie sich vor und schüttelt Noldi fest die Hand. Sie nennt keinen Schreibnamen.
Wahrscheinlich heißt sie in Wirklichkeit Heidi, Hedi, Nicole oder Maria, denkt Noldi, und das ist ihr Künstlername.
Er grinst innerlich. Diese Mariola ist ihr eigenes Kunstwerk, so um die dreißig, die tiefschwarz gefärbten Haare zu einem Turm hochfrisiert. Ihre Augen sind schwer getuscht und dunkel umrandet. Der schwarze Pullover gibt eine Schulter frei, sodass man ihre Tätowierung sehen kann, feine Schriftzeichen, die von oben nach unten laufen. Noldi kann sie nicht lesen.
Mit einer eleganten kleinen Verbeugung, eine Hand auf dem Rücken, platziert sie ein Päckchen auf dem Tisch.
»Voilà«, sagt sie und lacht: »Ich habe Kuchen gekauft.«
Während sie sich wieder um ihre Kundin kümmert, lässt Elsbeth Wehrli zwei winzige Tässchen Espresso aus der Maschine, die in einer schmalen Wandnische steht.
»Sie, die Berti, kann gar nicht frisieren«, erzählt sie, »aber sie ist ein Organisationstalent. Sie macht im Salon die Buchhaltung und das Marketing. Das ist ihre Stärke. Sie hatte die Idee«, Elsbeth beugt sich vor und flüstert, »sich auf ältere Damen zu spezialisieren.« Das sei in Weesen, wo so viele Pensionierte leben, der absolute Hit.
»Mariola und ich«, sagt sie, »wir verstehen uns blendend, wir sind ein perfektes Team. Auch mit der Chefin gibt es keine Probleme. Vielleicht weil sie nicht oft in den Salon kommt. Sie mischt sich nicht ein. Für sie ist
Weitere Kostenlose Bücher