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Nacht

Nacht

Titel: Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Melodia
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Insekt. Während ich mit den Beinchen zappele, ohne zu verstehen, was mit mir geschieht. Während ich vom Schmerz gequält werde.
    Ich gehe durch die leeren Gassen der Nachtlokale, in denen bei Einbruch der Dunkelheit Leben, Musik und Alkohol Einzug halten werden, in denen sich niemand darum schert, wer von den Besuchern harmlos ist oder ein Mörder.
    Und wo liegt letztlich der Unterschied? Wir sind alle gleich, ausgestattet mit einem Garantieschein, der uns als anständige Menschen ausweist, bis sich ein Defekt, ein Fabrikationsfehler herausstellt. Dann verwandeln wir uns in andere Kreaturen, undurchschaubar, gewalttätig. Die Garantie verfällt, und wir werden abgestempelt: Monster.
    Wie Adam, wie Tito, wie Agatha. Wie ich.
    Ich gehe über die Eisenbrücke. Meine Schritte klingen wie Glockenläuten.
    Ich stecke die Hände in die Taschen. Der Füller. Das Origami.
    Die Sonne geht schon unter. Bald wird es wieder dunkel sein. Und die Angst wird erneut Besitz von mir ergreifen.

[home]
    Kapitel 60
    L etzte Nacht habe ich nicht geschlafen.
    Die Stunden sind an mir vorbeigezogen wie Soldaten mit schwerem Tritt. Ich habe sie anhand der Turmuhrschläge der nahe gelegenen Kirche gezählt und ständig nachgesehen, ob es hinter den Lamellen der Jalousie bereits hell wird. Meine Gedanken ließen mir keine Ruhe, so dass ich völlig erschöpft war, noch ehe ein neuer langer Tag begonnen hatte.
    Jetzt sitze ich an meinem Pult, und mein Blick irrt unruhig umher, von meinen Mitschülern zur Lehrerin, zu den beiden Vögeln, die draußen vorm Fenster hin und her flattern. Ich kann mich unmöglich auf irgendetwas konzentrieren, also versuche ich es gar nicht mehr.
    Nur einmal traue ich mich, nach rechts hinten zu Agathas Bank zu schielen. Sie ist leer. Ich stelle mir vor, wie in ein paar Wochen ein anderer Schüler dort sitzen und sie in Vergessenheit geraten wird. Mit der Zeit wird sich niemand mehr an die durchgeknallte Siebzehnjährige erinnern, die dort ihren Platz hatte.
    Niemand außer mir.
    Ich sehe wieder zum Fenster hinaus. Vor dem Schultor haben sich ein paar Reporter versammelt. Sie werden erneut versuchen, uns über Agatha auszufragen, um Stoff für ihre Artikel zu bekommen. Vermutlich ist auch Roth darunter.
    Wenig später hindert mich das Pausenklingeln gerade noch rechtzeitig am Einschlafen. Meine Mitschüler eilen hinaus. In der Stille, die das sich entfernende Stimmengewirr hinterlässt, bleiben nur wir drei zurück: Naomi, Seline und ich. Wir merken, wie wir die Bücher mit derselben müden Langsamkeit in unsere Rucksäcke stopfen. Es ist nicht zu leugnen, dass die letzten Wochen uns ganz schön zugesetzt haben. Immerhin haben wir jetzt Gelegenheit, ein paar Worte ohne neugierige Zuhörer miteinander zu wechseln.
    Das Gesprächsthema versteht sich von selbst. Agatha.
    »Hat eine von euch mit ihr gesprochen?«, fragt Naomi.
    »Nein. Ich weiß noch nicht mal, wo sie jetzt ist«, antwortet Seline mit dünner Stimme.
    »Es geht ihr gut.«
    Die Mädels sehen mich erwartungsvoll an.
    »Du hast mit ihr reden können?«, hakt Naomi nach.
    »Nein, aber ich weiß, dass sie okay ist.«
    »Und woher weißt du das?«
    »Sagen wir, ich kenne jemanden bei der Polizei.«
    »Echt? Wen denn?«
    »Einen Freund von Jenna.«
    »Dann weißt du wohl auch, wohin man sie gebracht hat?«
    »Das hat er mir nicht gesagt.«
    »Jetzt ist zumindest klar, warum wir unsere Sitzungen nie bei ihr zu Hause abgehalten haben«, seufzt Seline.
    »Wir hätten darauf bestehen sollen«, sagt Naomi. »Uns gewaltsam Zutritt verschaffen.«
    »Und dann?«, will ich wissen. »Was hätten wir getan, wenn wir entdeckt hätten, dass sie dabei ist, ihre Tante zu Stein werden zu lassen?«
    Naomi schüttelt den Kopf. »Keine Ahnung. Wir hätten ihr vielleicht helfen können.«
    »Ich hätte sie angezeigt«, erklärt Seline. »Das ist eine schreckliche Sache. Schrecklich.«
    Bei dem Verb »anzeigen« merke ich, wie Naomi gedanklich abdriftet. Bestimmt denkt sie an den Schritt, zu dem sie sich noch nicht aufraffen konnte.
    »In den Zeitungen steht, dass es eine Nachbarin war«, fährt Seline fort.
    Ich würde ihnen so gern die Wahrheit sagen. Möchte ihnen von meinen Ausflügen zu Agathas Haus erzählen, von dem beißenden Geruch, der durch diese modrigen Wände kroch. Aber das kann ich nicht. Ich muss schweigen. Zu ihrem Schutz.
    »Du hast es gesagt …«, murmelt Naomi, wieder bei der Sache.
    »Was habe ich gesagt?«
    »Dass Agatha seltsam ist. Du hast es gespürt.

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