Nacht
uns ist.
»Das darfst du uns jetzt erklären«, empfängt sie Naomi, legt einen Arm um sie und schiebt sie hinaus, wie um sie vor all den anderen Jungs zu beschützen. Seline antwortet nicht gleich. Bleibt lange stumm, vielleicht, um ihre Gedanken zu sammeln. Dann bricht sie in Tränen aus.
»Seline?«
Sie hält uns handwedelnd auf Abstand. »Alles in Ordnung! Alles okay!«
Naomi und ich wechseln einen Blick. »Sieht mir nicht so aus«, bemerke ich.
Sie schnüffelt, heult weiter und stößt zwischen zwei Schluchzern hervor: »Er hat mich um Verzeihung gebeten.«
»Was?!«, rufen Naomi und ich einstimmig.
»Ja, ich bin ihm im Flur begegnet. Er hat mich angesprochen. Er wolle mir was Wichtiges sagen. Ich bin weitergegangen, aber er ist mir nachgelaufen … hat mich gebeten, ihn anzuhören, und da bin ich stehen geblieben.«
Ich schüttele den Kopf und lächele. Seline wird es nie lernen.
»Er hat gesagt, es täte ihm sehr leid, was er gemacht hat, und wenn es eine Möglichkeit gäbe, es wieder gutzumachen, würde er alles dafür tun.«
»Und was hast du geantwortet?«, frage ich.
»Nichts. Er hat mich nichts gefragt. Hat sich nur entschuldigt. Er … hat mich überrumpelt. Dann hat er gesagt, dass ich ein sehr hübsches Mädchen bin und er dieses Video aufgenommen hat, weil er ein Idiot war und seinen Kumpels zeigen wollte, dass ein so tolles Mädchen wie ich sich mit einem wie ihm verabredet. Er hat gesagt, dass er kapiert hat, wie mies das war, und dass er sich nur eines wünscht: dass ich ihm verzeihe.«
Selines Tränen werden zu einer Sturzflut. Offenbar haben Adams Worte all die Dämme eingerissen, die sie um sich und ihren Schmerz errichtet hatte.
Ich streichele ihr über ihre feinen, blonden Haare. Es ist das erste Mal, dass ich so etwas tue.
»Ich freue mich für dich.«
Sie zieht die Nase hoch.
»Tja, na ja …«, brummelt Naomi. »Was soll ich sagen? Ist wohl alles in allem eine gute Nachricht.«
»Was haltet ihr davon, das mit einem Riesensandwich in der Zebra-Bar zu feiern?«, schlage ich vor.
Naomi glotzt mich an.
»Wie in alten Zeiten«, beharre ich.
»Wir sind nie in die Zebra-Bar gegangen«, widerspricht Naomi. »Du hast immer gesagt, da gehen nur Schwachköpfe hin.«
»Ich habe meine Meinung eben geändert. Was sagst du, Blondchen? Ein Sandwich für jede, eins von den richtig großen?«
Seline weint, lacht, nickt und wankt, von ihren Gefühlen überwältigt. »Ich … ich … bin dabei.«
Meine Freundinnen.
Meine einzigen Freundinnen.
Ich nehme ihre Hände, und sie drücken meine fest.
Sie sind kalt, ich weiß, aber sie werden warm werden. Alles wird gut werden.
[home]
Kapitel 61
D er Schulhof ist sonnenbeschienen, am Rand zeigt sich das erste Grün der Bäume. Ein paar schwatzende Schülergrüppchen halten sich noch hier auf. Manche geben kurze Interviews, andere flüchten vor den Mikrofonen der Journalisten.
Die milde, windstille Luft verstärkt die angenehme Frühlingsmattheit noch, die uns nach dem strengen Winter einlullt.
Wir gehen durch das Schultor, Naomi, Seline und ich. Nicht weit entfernt parkt der weiße Kleintransporter einer Lokalzeitung. Roth und seine Truppe packen gerade eilig ihre Gerätschaften zusammen, als wollten sie gleich aufbrechen. Eine leise Unruhe kriecht meine Wirbelsäule empor.
»Wartet ihr kurz auf mich?« Ich lasse den Mädels keine Zeit zu antworten und laufe auf Roth zu. Mir schwant da was.
»Hallo. Willst du schon weg?«
Er ist vollauf damit beschäftigt, das Kabel eines Mikrofons aufzurollen, um es dann zusammen mit dem Aufnahmegerät in eine schwarze Tasche zu stecken. Seine Kollegen hantieren im Wageninnern mit Notizblöcken und Fotoapparaten. Es muss sich um einen dicken Fisch handeln.
Er sieht mich zerstreut an.
»Ja, allerdings.«
Wenn er mich auf die Folter spannen will, gelingt ihm das gut.
»Warum?«
»Sie haben ihn gefasst!«
»Wen?«
In meinem Kopf schwirren tausend Hypothesen, tausend Bilder herum: einen Mann mit Brille und Hut? Ein weiteres Sektenmitglied?
»Den Mörder. Oder vielmehr einen der Mörder. Wir sind unterwegs zum Kommissariat.«
Ich brauche nicht mehr als eine halbe Sekunde zu überlegen.
»Kann ich mitkommen?«
Er mustert mich unschlüssig.
»Meinetwegen. Aber ich will etwas dafür.«
Ich weiß, woran er denkt. »Das Interview?«
Er nickt.
»Der Handel gilt.«
»Exklusiv«, präzisiert er.
Ich erkläre mich einverstanden.
In Wahrheit weiß ich gar nicht, ob und auf welche Weise ich
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