Nacht
Als sie Adam fast blind gemacht hat, dort beim Fluss …«
»Mir war klargeworden, dass sie ein komischer Vogel ist, das ist alles.«
»Um seine Tante versteinern zu lassen, muss man schon mehr sein als das, nämlich ziemlich wahnsinnig«, bemerkt Naomi.
»Manchmal stellt das Leben uns vor schwierige Entscheidungen. Nicht alle treffen immer die richtige.«
Naomi kichert nervös. Denkt sie wieder an sich selbst?
»Was ist?«
»Komisch, dass ausgerechnet du so etwas sagst.«
»Wieso?«
»Na ja, weil du uns eingetrichtert hast, andere danach zu beurteilen, was sie für Entscheidungen treffen. Die Prüfungen für die Taufen – was waren die denn anderes als eine Beurteilung der Mädchen, die mit uns befreundet sein wollten?«
Sie hat recht. Aber die Alma von früher, die so sicher in ihren Urteilen war, gibt es nicht mehr.
»Offenbar habe ich meine Meinung geändert.«
»Das sieht dir gar nicht ähnlich.«
»Heute nimmst du’s aber genau.«
Seline deutet ein Lächeln an. »Wartet ihr auf mich? Ich gehe mal kurz zur Toilette.«
»Wir warten unten in der Eingangshalle. Draußen wimmelt es von Reportern«, warne ich sie.
Naomi und ich gehen langsam die Treppe hinunter. Ich sehe sie an.
»Wie geht es dir? Ehrlich.«
»Besser. Ich fühle mich immer noch beschissen, aber nicht mehr ganz so sehr. Doktor Mahl ist echt gut.«
Ich nicke und sage nichts darauf. Denke an die Hypnose.
»Du hattest recht, als du gesagt hast, ich kann ihm vertrauen. Ohne ihn hätte ich es nie geschafft, mich zu erinnern. Manchmal dachte ich, dass die Erinnerungen mit all ihrem Horror mich kaputtmachen. Aber ich muss sagen, dass er recht hatte. Hinterher … ist alles einfacher.«
»Meinst du, eines Tages wirst du mir mal genau erzählen, was mit dir passiert ist?«
Sie überlegt einen Moment. »Ja, ich glaube schon, eines Tages. Aber vorher gibt es noch etwas anderes, was ich tun muss und will.«
»Und was?«
»Ich werde Tito und seine Bande anzeigen.«
»Im Ernst?«
»Ja. Jetzt, wo ich langsam wieder zu Kräften komme, sehe ich ein, wie feige es war, mich vor dieser Aufgabe zu drücken. Ich muss es für mich tun und für all die anderen, die genauso zu ihren Opfern geworden sind, damit nicht noch mehr davon passiert. Außerdem lassen mir diese Morde in der Stadt keine Ruhe. Tito und seine Komplizen könnten was damit zu tun haben.«
Sie ist also zu demselben Schluss gekommen wie ich. Nur zu spät. Trotzdem sehe ich sie voller Hochachtung an. »Ich bin stolz auf dich«, sage ich.
»Ich bin auch stolz auf mich, und das zum ersten Mal seit diesem verfluchten Abend.«
Gestärkt durch unsere wiederhergestellte Vertrautheit, gehen wir die breite, leere Treppe hinunter. Zwei Königinnen, die ihr ödes, tristes Schloss verlassen. Sie verlassen es als Letzte, voller Würde. Vor der Tür zum Direktorat bleiben wir stehen.
»Und du? Du wirkst unheimlich müde, so habe ich dich noch nie gesehen.«
»Ich schlafe nicht gut.«
»Verstehe.«
»Wohl eher nicht. Aber das geht vorbei …«
Naomi sieht mich skeptisch an.
»Wir sind das furchterregendste Kleeblatt, von dem man je gehört hat …«, versuche ich es grinsend mit einem Spruch.
Dann machen wir beide plötzlich große Augen.
»Das fasse ich jetzt nicht«, murmelt Naomi.
Auch ich glaube, nicht richtig zu sehen. Die Treppe herunter kommen, Seite an Seite, Seline und Adam.
»Was machen die beiden da zusammen?«, fragt Naomi, richtig sauer.
Darauf habe ich keine Antwort.
Seline und Adam unterhalten sich wie zwei gute Freunde. Sie müssen sich auf dem Weg zur Toilette begegnet sein. Gut, denke ich. Seline lächelt wie seit Wochen nicht mehr, und Adam wirkt wie ein unbeholfener kleiner Junge, der zum ersten Mal verknallt ist.
»Ich geh mal hin«, sagt Naomi entschieden.
Aber ich halte sie fest. »Warte.«
»Seline ist so bescheuert!«
»Scheint mir nicht so.«
»Aber sie hasst Adam!«
»Meinst du? Wenn ich sie mir so ansehe, würde ich sagen, dass sie gern mit ihm spricht. Guck doch …«
Adam kratzt sich im Nacken und verabschiedet sich am Fuß der Treppe von Seline, indem er ihr die Hand reicht. Sie zögert einen Augenblick, dann nimmt sie sie und kommt auf uns zu.
Adam sieht ruhig und unbefangen zu uns hinüber und hebt eine Hand zum Gruß, ehe er das Schulgebäude verlässt.
Ich winke zurück.
Es scheint eher eine Abmachung zu sein als ein Gruß. So etwas wie ein Versprechen, die Feindseligkeiten einzustellen.
»Entschuldigt«, sagt Seline, als sie bei
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