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Nacht

Nacht

Titel: Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Melodia
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blöden Videos so fertigmachen? Und was haben wir getan, um ihr zu helfen, außer Adam den Rest zu geben? Vielleicht bin ich zu hart zu ihr gewesen. Vielleicht bin ich es auch zu Agatha.
    »Wir sind miserable Freundinnen«, sage ich aus heiterem Himmel.
    Naomi guckt mich an. »Wie meinst du das?«
    »Ich meine, dass Agatha uns vielleicht braucht. Und wir lassen sie im Stich.«
    »Findest du?«
    »Ja, wir wissen noch nicht einmal genau, wo sie wohnt.«
    »In der Altstadt.«
    »Welche Straße, welche Hausnummer?«
    Seline schüttelt den Kopf. »Ich kann mich nicht erinnern.«
    »Weil sie es uns noch nie gesagt hat«, rechtfertigt sich Naomi. »Jedes Mal, wenn unsere Sitzung bei ihr stattfinden sollte …«
    »Und wir haben sie nie danach gefragt«, unterbreche ich sie.
    »Was willst du machen?«
    »Sie besuchen. Ihr meine Hilfe anbieten. Sehen, wie es ihrer Tante geht.«
    »Das ist gut«, murmelt Seline, ohne sich bewusst zu sein, wie sehr sie selbst Hilfe nötig hat.
    »Willst du mitkommen?«, frage ich Naomi.
    »Wann?«
    »Heute. Morgen. Samstag. Keine Ahnung.«
    »Heute kann ich nicht. Und Samstag auch nicht.« Naomi wird ein bisschen rot und senkt den Blick.
    »Deine neue Bekanntschaft?«
    Tito, dieser seltsame Junge mit den Mandelaugen und dem Pferdeschwanz.
    »So ähnlich …«
    »Du brauchst mir nichts zu erklären«, unterbreche ich sie. »Das ist schließlich deine Sache.«
    Ich tue gleichgültig, aber ich mache mir Sorgen. Der Zusammenhalt unserer Gruppe bröckelt. Jede von uns geht, aus unterschiedlichen Gründen und ohne mit den anderen darüber zu reden, neuerdings ihrer eigenen Wege. Ich allen voran. Meine Alpträume, meine plötzlichen Kopfschmerzen, meine Geschichte in dem violetten Heft – all das habe ich für mich behalten und auf die Kommentare und Ratschläge meiner Freundinnen verzichtet. Ich war der Meinung, es nicht nötig zu haben, mich ihnen anzuvertrauen. Und das glaube ich noch immer. Doch anscheinend haben Naomi und Seline die gleiche Wahl getroffen. Nach außen geben wir uns stark, während wir innerlich am Zusammenbrechen sind und immer mehr Barrieren zwischen uns errichten.
    Uns in dem großen, chaotischen Nichts verlieren, das uns umgibt.
     
    Ich lasse meine Mitschüler an mir vorbeiziehen und bleibe zurück. Die vier Täschchendamen, die beiden Fußballmannschaften-Erfinder, die Rabauken aus der ersten Reihe, meine Freundinnen. Sie gehen, einer nach dem anderen, und lassen ihren Mief im Klassenzimmer zurück. Ich habe das Bedürfnis, ein Fenster aufzumachen, warte aber noch ab.
    Allmählich leert sich die ganze Schule, wie ein verstopftes Waschbecken.
    Bevor mich ein Pedell entdeckt, verziehe ich mich in die Bibliothek, als würde ich dort lernen wollen. In Wahrheit will ich ins Sekretariat, Agathas Adresse heraussuchen und dann ebenfalls verschwinden. Ich weiß, dass das Schloss noch immer kaputt ist, denn Adam oder wer immer es war, der Scrooges Büro angezündet hat, hat ganze Arbeit geleistet. Eine Sache von Minuten. In den Fluren laufe ich gegen den Strom von Jungen und Mädchen, der nach draußen schwemmt. Ich steige die Treppe hinunter. Wie nach einem überstandenen Hochwasser liegt hier alles Mögliche auf dem Boden: bekritzelte Blätter, ein paar Stifte, eine zusammengeknüllte Zigarettenpackung, Filzschreiberkappen, ein Wollhandschuh ohne Finger.
    In der Bibliothek empfangen mich Ruhe und Frieden: Hier ist kein Mensch. Durch die dreckigen Scheiben wirkt der Himmel noch bewölkter und düsterer. Von der Decke hängen lange schmale Lampen tief über den Tischen, die aus grünem Holz sind, genauso wie der Fußboden. Die Lampen zeichnen Rechtecke aus purem Licht, die den Blick auf sich ziehen und den Halbschatten ringsum ausblenden. Sieht aus wie lauter OP -Tische.
    Die Regale aus weißlackiertem Stahl sind mit Büchern vollgestellt, in einer losen Unordnung, die den sinnlosen Versuch einer Katalogisierung noch erahnen lässt. Bis vor kurzem gab es hier eine alte, missmutige Frau, die irgendwie dafür gesorgt hat, dass wir einen Titel in weniger als einer Stunde finden konnten. Eines Tages war sie weg, verschluckt von der Schule oder der Stadt, und die Bücher haben seitdem begonnen, sich zu vermehren, herumzuwandern, sich in immer größerem Durcheinander auf den lackierten Regalen zu verteilen. Wir haben unseren Sprachlehrer gefragt, was aus der Bibliotheksfrau geworden sei. Wir wussten nicht mal, wie sie hieß. Der Lehrer wusste nicht mal, dass es sie gab. Er hatte noch

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