Nacht
was sie mit einer derart majestätischen Treppe anfangen sollten, schafften sie sie einfach hierher, in unsere Schule, setzten sie hier ein, ohne sich um das Gesamtbild zu scheren. Wenn Scrooge sich fotografieren lassen muss, wählt er immer diese verdammte Treppe als Hintergrund, um seine Schule besser dastehen zu lassen, als sie ist.
»Sie haben ihn geschnappt!«, höre ich, als ich fast oben bin. Ich beuge mich über das Eisengeländer und sehe nach unten. Eine wilde Flucht von Jungen ist im Gange, dann geht krachend die Tür des Direktorzimmers auf, und Scrooge brüllt etwas. Naomi und ich haben denselben Gedanken: Davon haben sie also alle geredet. Immer noch von der Sache mit dem Brand.
Wir erreichen unser Klassenzimmer im zweiten Stock.
Seline und Agatha stehen neben meiner Bank. Seline sieht leidend aus. Sie hat tiefe Augenringe und eine kranke Gesichtsfarbe, die sie zehn Jahre älter wirken lässt. Aber wenigstens ist sie hier.
»Wie geht es dir?«, frage ich sie.
»Gut.«
Dann fügt sie hinzu: »Danke für gestern …«
»Ist doch klar«, sage ich.
»Hast du wieder angefangen zu essen?«, will Naomi wissen und wirft ihren Rucksack auf den Tisch.
»Sie haben den Schuldigen für den Brand im Direktorzimmer gefunden«, wechselt Seline das Thema.
»Tatsächlich? Wie das denn?«, frage ich.
»Der Polizist hat einen Hinweis entdeckt.«
»Wow!«, ruft Naomi. »Eine Ermittlung wie im Krimi.«
»Was für einen Hinweis?«
»Einen Silberring. Mit einem Drachen.«
Daher also kursierte da unten dieses Wort: Drachen. Die Sache mit dem Ring erinnert mich an etwas, aber ich komm nicht drauf.
»Das ist übrigens das eigentlich Interessante«, zischt Agatha.
Wir gucken sie an. Sie will uns neugierig machen, was ihr auch gelingt.
»Ja und?«
»Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass ich weiß, wem dieser Ring gehört?«, fragt mich Seline.
»Nein.«
»Sie haben jemanden zum Direktor bestellt«, setzt Agatha noch eins drauf.
»Wen?«, fragt Naomi.
»A-d-a-m«, buchstabiert Seline und spuckt jeden Buchstaben aus, als wäre er ein fauler Zahn.
»Adam?«
Seline nickt langsam, als wollte sie sich selbst davon überzeugen, dass es wahr ist. »Ich habe diesen Ring tausend Mal an seinem Finger gesehen. Er gehört ihm.«
»Adam hat das Büro des Direktors angezündet? Aber warum?« Ich bin perplex.
Dann tauchen das Bild von dem Drachenring und der Abend am Fluss in meinem Kopf auf. Jetzt erinnere ich mich deutlich an Adams Hand, beleuchtet von der Straßenlaterne.
Agatha lächelt.
Es ist, als hätte eine göttliche Gerechtigkeit beschlossen, diesen Dreckskerl für all seine Sünden bezahlen zu lassen.
Und gerade das erschreckt mich. Denn soweit ich weiß, bezahlen Dreckskerle nie ihre Rechnung.
[home]
Kapitel 17
Z wei Tage sind vergangen.
Wir wissen nichts von Adam.
Und Agatha ist nicht mehr zur Schule gekommen. Sie geht nicht ans Telefon. Sie ist verschwunden. Die Geschichtslehrerin teilt uns mit, dass sich der Zustand von Agathas Tante verschlechtert hat und Agatha nicht vor nächster Woche wiederkommt.
Es gefällt mir nicht, das auf diese Weise zu erfahren.
Agatha ist eigentlich unsere Freundin.
»Sie ist wirklich fertig«, kommentiert Naomi in der Pause.
»Wir sind alle fertig«, flüstert Seline.
Ich schweige. Da hat sie nicht unrecht.
Wir drei, Naomi, Seline und ich, lehnen mit dem Rücken an einer Fensterbank im zweiten Stock, direkt vor unserer Klasse. Auf der Treppe zu unserer Rechten sitzen ein paar Mädchen und quatschen.
»Es ist eine miese Phase im Moment«, fasst Naomi die Lage zusammen. »Und Agatha benimmt sich komisch, das ist alles.«
»Ich weiß nicht, ›normal‹ ist sie mir noch nie vorgekommen«, entgegne ich. »Falls das überhaupt jemand ist auf dieser Welt.«
»Ich finde, sie ist irgendwie bösartiger als sonst.«
»Das richtige Wort ist
grausam,
Naomi.«
»Versuchen wir, sie zu verstehen«, sagt Seline. »Wenn ihre Tante stirbt, landet Agatha ruck, zuck in einem Heim.«
»Es ist nicht nur das.«
»Was dann?«
Dass Agatha mir manchmal eine Gänsehaut verursacht. Aber das sage ich nicht. Ich zucke lediglich mit den Achseln und wende meine Aufmerksamkeit wieder Seline zu. Es geht ihr wirklich nicht gut. Man hat ihr Aufbauspritzen verschrieben, aber sie weigert sich hartnäckig zu essen. Ihre Magerkeit wird durch die inzwischen zu weiten Kleider noch betont. Sie sieht aus, als hätte sie seit Tagen nicht richtig geschlafen. Wie kann man sich nur wegen eines
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