Nacht
nie einen Fuß in die Bibliothek gesetzt.
Am Eingang zum Saal hängt ein Schild, handgeschrieben, denn der einzige Drucker der Schule, der im Lehrerzimmer steht, ist so alt, dass die Tonerkartuschen dafür nicht mehr verkauft werden. Es weist die Schüler darauf hin, dass sie die Bücher nach Benutzung wieder an Ort und Stelle bringen müssen. Reine Utopie.
Ich suche mir aufs Geratewohl einen Platz. Es ist ja alles frei. Ich setze mich und lege meinen Rucksack auf den Tisch. Es dauert ein paar Minuten, bis ich meine Hefte und Bücher hervorgekramt habe. Die Luft steht hier drin und scheint durch die Wärme der Lampen wie zerstäubt. Schließlich habe ich alles, was ich brauche, um meine Anwesenheit hier zu rechtfertigen: einen Haufen Hausaufgaben, viel Ruhe und meine Hand, um meinen gedankenschweren Kopf aufzustützen.
Er ist schwer, und mein Hals fühlt sich so schwach an, als könnte er zerbrechen. Niemand sieht mich, und ich sehe niemanden. Die Zeit verrinnt tröpfchenweise. Ich tue nichts. Jetzt bin ich allein. Vielleicht. Ich fühle mich frei. Bin ich es wirklich? Manchmal kommt es mir nicht so vor.
Ich schlage ein Heft auf, dann ein Buch, lese und schreibe, lerne Begriffe auswendig, in der Hoffnung, dass mir all das eines Tages von Nutzen sein wird, wie man uns immer einredet. Das ist meine Zeit. Mein Leben. Ich kann damit machen, was ich will. Nur weiß ich nicht, was.
Die Lampen verbreiten immer mehr Wärme, wie in einem Treibhaus. Eine Stunde vergeht, zwei.
Um mich herum liegen zerknüllte Zettel wie riesige Papierinsekten. Ich bin jetzt bereit, loszugehen und mich ins Sekretariat einzuschleichen. Mit derselben methodischen Sorgfalt, mit der ich sie herausgeholt habe, verstaue ich meine Sachen wieder im Rucksack. Ich halte viel von rituellem Handeln: Es hilft einem, sich wirklich auf das zu konzentrieren, was man gerade tut, und es richtig zu tun, um sich von all denen zu unterscheiden, die Handlungen wie Maschinen ausführen.
Ich schalte keine einzige Lampe aus. Sie brannten schon, bevor ich kam, und werden weiterbrennen, nachdem ich gegangen bin. Mit angehaltenem Atem verlasse ich die Bibliothek und laufe durch den Korridor zur Treppe. Im Licht des Nachmittags sieht er ganz anders aus. Die Klassenräume sind still und dunkel, die Fenster alle geschlossen. Das Linoleum ächzt unter meinen Schritten. Unter der Tür des Chemielabors am Ende des Ganges dringt ein bernsteinfarbener Lichtstreifen hervor.
Als ich vorsichtig näher komme, höre ich leise Stimmen. Ich beiße mir auf die Unterlippe. Ich habe die Bibliothek zu früh verlassen. Dennoch schleiche ich weiter, den Blick auf den Korridor geheftet. Die Stimmen klingen absichtlich gedämpft. Diskussionen. Heimlichkeiten.
Eine der Stimmen gehört Professor K. Ich erkenne sein rauhes Timbre, seinen ruhigen, rhythmischen Tonfall. Die andere dagegen ist nur ein Wispern, zu leise, als dass ich sie verstehen könnte. Ich gehe noch näher heran.
Natürlich könnte ich am Labor vorbeihuschen, ohne dass mich jemand bemerkt. Doch die Neugier hält mich zurück und zieht mich zu der Tür. Ich gehe auf Zehenspitzen, um kein Geräusch zu machen, und achte darauf, mich nicht zu weit vorzubeugen. Durch den Türspalt sehe ich das bleiche, alterslose Gesicht von Professor K. Er sitzt hinter dem Experimentiertisch, vor ihm ein Frosch in einem Glas. Ein paar Batterieklemmen. Ein Bunsenbrenner neben einem Spirituskocher. Professor K. hat die Hände auf den Tisch gelegt wie ein Pianist. Im gelblichen Licht der Laborlampe sieht er aus wie ein Wesen aus einer fernen Welt. Vor ihm, ziemlich dicht hinter der leicht geöffneten Tür, sitzt jemand. Die zweite Person, die so leise spricht. Ich kann nur die Schuhspitzen und einen Teil der Jeans sehen. Einer der Jungs.
Der Professor scheint sehr aufmerksam zuzuhören, redet aber jetzt ebenfalls so leise, dass ich kein Wort mitbekomme. Sein Gegenüber hört schweigend zu. Als der Professor eine Pause macht, lehnt er sich vor, und ich erkenne Morgans blaue Wolljacke. Eine Gänsehaut läuft mir über den Rücken. Seine Stimme war das also. Morgan! Was macht er um diese Zeit mit Professor K. im Chemieraum? Ich ziehe mich hastig zurück, ohne zu atmen.
Die Treppe ist direkt vor mir. Ich verspüre den starken Wunsch, nach draußen zu laufen, die Marmorstufen so leise wie möglich hinunterzurennen und zu flüchten, wie vom Ort eines Verbrechens. Warum? Warum verstört es mich derart, dass Morgan hier ist? Warum sollten Morgan und
Weitere Kostenlose Bücher