Nacht aus Rauch und Nebel
Da ist ein Schmerz in meiner Brust, manchmal auch auf meiner Haut und –« Ich stockte.
Marian musterte mich eindringlich. »Wie meinst du das?«
»Na ja, ich muss andauernd an den Stein denken«, murmelte ich. »Also immer, wenn die Erde bebt oder es regnet, verstehst du? Deshalb habe ich mich gefragt, ob er vielleicht für diese Dinge verantwortlich sein könnte.« Oder ich selbst, dachte ich. Bin ich schuld an dem, was hier geschieht?
Marians Blick verfinsterte sich. Er ließ meine Hand so unvermittelt los, als habe er sich daran verbrannt. »Wir waren uns einig, dass wir nicht mehr über dieses Thema reden.«
Ich schluckte. Wir hatten niemals etwas Derartiges beschlossen. Es war einfach so gekommen, dass keiner von uns den Weißen Löwen noch einmal erwähnt hatte. Ich nicht, weil ich ein schlechtes Gewissen und ein Geheimnis zu hüten hatte, und Marian nicht, weil es ihn zu sehr schmerzte. Doch nun …
Er stand auf. »Du musst also an den Weißen Löwen denken, Flora?«
Ich nickte und erntete einen wütenden Blick, der mich bis ans äußerste Ende des Sofas zurückweichen ließ.
»Was glaubst du, woran ich seit Monaten denke, Tag und Nacht? Wie kannst du nur jetzt davon anfangen? Ausgerechnet heute Nacht!«
»Nein!«, rief ich. »Du verstehst mich nicht. Es ist immer dann, wenn –«
»Es reicht«, schnitt er mir das Wort ab und hob abwehrend die Hände vor das Gesicht. »Ich ertrage das nicht, okay? Ich dachte, das wüsstest du.«
»Mir ist klar, wie schwer das alles für dich ist. Aber du hast auch gesagt, du wärst erleichtert, dass der Stein nun verloren ist und du nicht mehr gezwungen bist, dich zwischen deiner Schwester und der Schattenwelt zu entscheiden«, erinnerte ich ihn an unser Gespräch im Palast. War er nicht im Grunde seines Herzens froh gewesen, dass ich den Stein fortgeschafft hatte?
»Ja, ja, das habe ich gesagt«, knurrte er. Mit einem Satz war er an der Tür, wo er mit gesenktem Blick hinzufügte: »Aber anscheinend habe ich mich geirrt.«
Er stürzte auf den Flur hinaus, ich hastete ihm hinterher. »Ich wollte dich nicht verletzen«, rief ich. »Es ist wirklich etwas Merkwürdiges im Gange, das vielleicht mit dem Weißen Löwen zusammen–«
»Ich will es nicht hören, Flora. Bitte respektiere das.« Er sprang die Treppe hinab.
»Und wenn es wichtig ist?« Ich stolperte ihm nach. »Wenn ich vielleicht deine Hilfe brauche?«
»Dann musst du in diesem Fall leider darauf verzichten.«
Ich seufzte. Es war aussichtslos, ihn einholen zu wollen. Stattdessen trottete ich langsam und ein wenig unschlüssig die Stufen hinunter, als mich wenige Augenblicke später ein dröhnendes Geräusch aufhorchen ließ. Zuerst glaubte ich, das Gebäude würde nun endgültig einstürzen, doch dann erkannte ich die Gestalt des Großmeisters in einem Gang zu meiner Linken. Er lief gebeugt und schien nur langsam voranzukommen. Um seinen Körper hatte er sich mehrere Seile geschlungen. Vielleicht um sich zu sichern? »Komm schon, meine Kleine«, murmelte er vor sich hin. »Komm schon.«
»Meister?«, rief ich über das Schaben und Tosen hinweg. »Kann ich Ihnen helfen?«
Fluvius Grindeaut zuckte zusammen und blieb mitten in der Bewegung stehen. Die merkwürdigen Geräusche verstummten. »F-flora«, lallte er. »Geh nach draußen. Hier ist es zu gefährlich.«
Ich trat näher und spähte um die Ecke. »Sind Sie sicher, dass Sie keine Unterstützung brauchen mit Ihrem … Metall?« Der Großmeister hatte sich ein riesiges Maschinenteil an den Rücken gebunden. Es passte kaum durch den Gang, durch den er es zu ziehen versuchte, und bestand aus unzähligen Rohren, Platten und Nieten. »Wo wollen Sie überhaupt damit hin?«
»Ein Teil meiner Labore ist verwüstet worden. Ich räume nur auf«, erklärte der alte Mann. Sein Blick huschte hektisch von mir zu seiner Fracht und wieder zurück. Es passt ihm nicht, dass ich das hier sehe, schoss es mir durch den Kopf.
»Aber–«
Er wedelte mit dem Arm, als wolle er mich wie ein Insekt verscheuchen. »Geh nur, Flora. Ich habe alles im Griff.«
Zur Schule zu gehen, kam mir in den nächsten Tagen immer merkwürdiger vor. Im Unterricht zu sitzen und den Lehrern zu lauschen, fühlte sich irgendwie überholt an. Es passte nicht mehr zu mir und dem, was in meinem Leben sonst noch vor sich ging. Zwar war Wiebke endlich wieder gesund und ich genoss es, die Vormittage mit ihr zu verbringen, doch ich konnte mich kaum noch auf den Stoff konzentrieren.
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