Nacht aus Rauch und Nebel
sie dort noch immer verzweifelt nach ihrem kleinen Sohn. Es musste schrecklich sein, nicht zu wissen, wo seine Seele steckte. Ich hätte ihr gerne dabei geholfen, wenn ich gewusst hätte, wo genau sie steckte. Doch so blieb mir nichts anderes übrig, als hier auf sie zu warten.
Fast hoffte ich, Madame Mafalda würde mich heute mit Marian kämpfen lassen. Auch wenn ich ihm natürlich hoffnungslos unterlegen gewesen wäre, reizte es mich, gegen ihn anzutreten, mich mit ihm zu messen. Doch Mafalda Grindeaut hatte anderes im Sinn. Statt Marian wurde Katharina meine Gegnerin.
Die folgenden zwei Stunden wurden hart. Katharina war kräftig und noch dazu hinterhältig. Ihre Finten waren gemein, ihre Schläge brutal. Allerdings hatte ich in den letzten Wochen dazugelernt. Wahrscheinlich würde ich nie an die angeblichen Künste meiner Seele heranreichen, aber in den meisten Fällen erkannte ich, was Katharina vorhatte, und hielt dagegen. Schon nach kurzer Zeit lief mir der Schweiß die Schläfen hinunter. Wir beide legten all unsere Kraft in die Auseinandersetzung, die eigentlich aus angetäuschten Hieben bestehen sollte. Während die anderen um uns herumtänzelten, krachten unsere Kampfstöcke wieder und wieder aufeinander. Der Lärm war ohrenbetäubend und es dauerte eine Weile, bis wir registrierten, dass Madame Mafalda uns zur Räson rief.
»Flora! Katharina! Schluss jetzt, habe ich gesagt«, donnerte sie. Gehorsam ließ ich meinen Stab sinken und wappnete mich für die anstehende Strafpredigt. »Was soll das?«, begann die Schwester des Großmeisters. »Beim Barte des – Katharina!«
Ich schaffte es gerade noch, mich unter einem weiteren Schlag wegzuducken, der voll auf mein rechtes Schlüsselbein gezielt hatte. Katharina gehörte zu den Menschen, die stets das letzte Wort haben mussten, und anscheinend verhielt es sich im Kampf ähnlich. Sie konnte mir noch immer nicht verzeihen, dass meine Seele ihr Marian weggenommen hatte. Miststück, dachte ich und hatte im selben Augenblick einen Geistesblitz.
Plötzlich wusste ich, woher ich den Namen Desiderius kannte. Ich hatte ihn nicht in einem Buch gelesen, sondern gehört, und zwar recht häufig. Beim Dämmerungstraining. Beim Barte des Desiderius! Genau das sagte Madame Mafalda, wenn sie wütend wurde.
Schweigend ließen wir ihre Ansprache über uns ergehen. Sie tadelte uns für unsere mangelnde Disziplin, unsere schlechten Leistungen, meine häufige Unpünktlichkeit und Katharinas unordentlichen Kampfanzug. Du meine Güte, die Frau besaß Ausdauer. Aber die hatte ich auch. Als ihr Redeschwall schließlich ein Ende fand, wartete ich, bis Katharina und die übrigen Kämpfer den Raum verlassen hatten. Ich tat so, als poliere ich meinen hölzernen Kampfstab mit einem Zipfel meines Shirts.
»Was ist, Flora? Hast du vor, hier Wurzeln zu schlagen?«, fragte Mafalda, sobald wir allein waren.
»Nein. Ich bin auf der Suche nach jemandem«, sagte ich.
»Ach ja?« Madame Mafalda erhob sich schwerfällig von ihrem Stuhl. Der Speck an ihren Armen schlackerte, als sie mit den Achseln zuckte. »Dann viel Glück.« Sie wandte sich zum Gehen.
Mit zwei raschen Schritten trat ich ihr in den Weg. »Ich hatte gehofft, Sie könnten mir weiterhelfen. Es geht um jemanden namens Desiderius.«
Madame Mafalda musterte mich über den Rand ihrer Brille. »Mhm«, schnaubte sie und wollte sich an mir vorbeidrängen.
»Bitte! Kennen Sie ihn?«
Sie hielt inne. »Möglicherweise. Warum?«
»Weil … ich ihn finden muss«, sagte ich und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Es ist wegen des Steins.«
Der genervte Ausdruck verschwand von ihrem teigigen Gesicht und machte ehrlichem Interesse Platz. »Nun«, sagte sie. »Ich kannte den alten Desiderius gut.«
»Kannte?« Ich biss mir auf die Lippe. So ein Mist! Hatte Arif nicht auch in der Vergangenheit von ihm gesprochen? »Heißt das, er ist–«
»Papperlapapp.« Sie wischte meinen Gedanken mit einer unwirschen Handbewegung fort.
»Dann verraten Sie mir, wo ich ihn finden kann.«
Madame Mafaldas grell geschminkte Mundwinkel zuckten, als sie sich endgültig an mir vorbeischob. »Das kann ich nicht«, sagte sie und stemmte die fleischigen Hände gegen die Tür. »Allerdings würde ich an deiner Stelle, wenn ich auf der Suche nach einem Wandernden wäre, zuerst im Rathaus nachfragen.«
Im Rathaus? »Danke!«, rief ich ihr hinterher. Mir war nie der Gedanke gekommen, dass es so etwas wie eine Einwohnermeldekartei für Wandernde in
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