Nacht aus Rauch und Nebel
es gelang mir, einen Sturz in die Tiefe zu verhindern. Stattdessen prallte ich lediglich gegen das Geländer, an dem ich mich instinktiv festhielt. »Deshalb müssen wir –«, wollte ich meinen begonnenen Satz aufgreifen. Doch auch dieses Mal schaffte ich es nicht, ihn zu beenden.
Denn in diesem Augenblick brach die Hölle los.
Es begann mit einem ohrenbetäubenden Donnern, das direkt aus dem Innern der Erde zu kommen und die Fundamente der Pyramide zu zerfetzten schien. So fühlte es sich jedenfalls an: als bräche etwas in der Tiefe unter uns weg. Der Balkon erzitterte, hinter mir erklang das Geräusch von Sandstein, der auf Sandstein mahlte. Rauchschwaden stiegen zu uns herauf, zusammen mit dem Geruch von Schwefel, der mir in die Nase biss.
Dann folgte ein weiteres Grollen, näher dieses Mal und so laut, dass ich befürchtete, es würde mir die Trommelfelle zerreißen. Gesteinsbrocken wirbelten durch die Luft, Staub drang mir in die Lungen. Ich fuhr herum, erkannte aus dem Augenwinkel, wie sich der Eiserne Kanzler schützend vor meinen Vater warf. Gerade noch rechtzeitig, bevor die Spitze der Pyramide zersplitterte wie gefrorenes Glas.
Auf dem Platz ertönten Schreie.
Ein weiterer Donner.
Die Druckwelle riss mich von den Füßen und schleuderte mich nun tatsächlich über die Balkonbrüstung hinaus. Kopfüber stürzte ich einen Herzschlag lang in die Tiefe, bis sich mein Fuß in den Streben der Brüstung verhakte. Es regnete Mörtel und Steine, ein scharfkantiger Brocken prallte auf mein Jochbein und ließ meine Haut aufplatzen. Blut rann mir in die Augen, während ich mit den Armen rudernd versuchte, Halt zu finden. Es gelang mir nicht und weder der Kanzler noch mein Vater machten Anstalten, mich heraufzuziehen. Ersterer nicht, weil ihm mein Tod vermutlich den Abend versüßen würde, Letzterer, weil er mit dem Rücken zu mir am Boden lag, bis ein dritter Donnerschlag das Gebäude erschütterte und meinen Vater panisch aufspringen ließ.
»Flora?«, rief er durch eine neuerlich aufwallende Staubwolke in meine Richtung. »Wo bist du?«
»Hier!«, antwortete ich, aber der Staub in meinem Hals verwandelte meine Stimme in ein heiseres Flüstern, das er unmöglich wahrnehmen würde in all dem Lärm.
»Sie ist davongerannt, Hoheit«, log der Kanzler, packte meinen Vater bei den Schultern und drängte ihn in Richtung der Wendeltreppe. »Wir müssen hier raus, bevor alles in sich zusammenstürzt.«
Im nächsten Moment waren die beiden Männer verschwunden, während ich noch immer alles daransetzte, mich wieder auf den Balkon zu ziehen. »Hilfe!«, krächzte ich. Wenn ich doch nur eine der Streben zu fassen bekäme! Einmal gelang es mir beinahe, doch meine Finger rutschten im letzten Moment ab. Ich hustete. Allmählich ging mir die Kraft aus, es wurde immer schwerer, den Kopf hochzuhalten. Meine Beine schmerzten, der Staub um mich herum nahm mir die Sicht. Mit jedem Versuch wurde mein Vorhaben aussichtsloser, es gelang mir immer weniger, meinen Körper in die Höhe zu schwingen.
Erschöpft baumelte ich schließlich in schwindelerregender Höhe und langsam senkte sich Stille über die Szenerie. Das Grollen verstummte, vereinzelt waren davonhastende Schritte zu hören. Schließlich blieb nur noch das Rauschen meines eigenen Blutes in meinen Ohren. Der Druck in meinem Schädel nahm zu, mir schwanden die Sinne. »Helft mir«, murmelte ich. Um mich herum knackte und knarrte es. Meine Lider flackerten und zuerst dachte ich, jemand hätte mich entdeckt und meinen Fuß aus der Balkonbrüstung gelöst. Aber damit lag ich falsch. Nicht mein Fuß hatte sich bewegt, sondern das Bauwerk, in dem er sich verhakt hatte.
Anscheinend hatte das Unglück nur neuen Atem geschöpft, um kurze Zeit später mit noch größerer Wucht erneut zuzuschlagen. Dieses Mal erzitterte der Balkon nicht, er zerbrach. Wie durch eine Wand aus Watte drang ein Knallen zu mir durch, es kam mir so vor, als drehe sich der mächtige Bauch der Pyramide um die eigene Achse. Ich hörte Aquarienscheiben platzen und Wassermassen sich ergießen, während sich der Balkon in Richtung Erdboden neigte und Mauern einstürzten wie Kartenhäuser.
»Hilfe«, flüsterte ich noch einmal, dann verlor ich auch den letzten Halt. Trotz der veränderten Schwerkraft Eisenheims raste mein Körper der Tiefe entgegen. Doch der Tod fühlte sich seltsam dumpf an. Vielleicht hatte ich Glück und verlor endgültig das Bewusstsein, bevor mein Kopf auf dem Straßenpflaster aufschlug
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