Nacht aus Rauch und Nebel
greifen. Aber weil ich mich zu sehr davor fürchtete, wieder einzuschlafen, tat ich es irgendwann doch. Obwohl ich überhaupt keinen Appetit hatte, schlürfte ich ein wenig von der Brühe. Dafür, dass Christabel sie gekocht hatte, schmeckte sie ganz annehmbar. Allerdings lag das vielleicht auch nur daran, dass die Erkältung meine Geschmacksnerven betäubte.
Normalerweise verfügte ich ja über die Gesundheit eines Baumes. Eigentlich konnte ich mich gar nicht daran erinnern, jemals wirklich krank gewesen zu sein. Möglicherweise versuchte mein Körper deshalb, die letzten Jahre aufzuholen und so etwas wie ein natürliches Gleichgewicht wiederherzustellen, in dem er mich nun vollkommen im Stich ließ. Oder aber die letzten Wochen und Monaten waren schlicht zu viel für mich gewesen. Jedenfalls ging es mir auch am darauffolgenden Tag nicht besser, genauso wenig wie am übernächsten, an dem Christabel unseren Hausarzt anrief und sogar in die Wohnung hineinließ.
Viel bekam ich von seinem Besuch allerdings nicht mit. Die meiste Zeit über befand ich mich in einer Art Dämmerzustand, von dem aus ich tagsüber wie nachts mal in die eine und mal in die andere Welt hinüberglitt. Und während die Nebelkönigin sich tiefer und tiefer in das Nichts hineinkämpfte, saßen an meinem Bett in der realen Welt die unterschiedlichsten Leute. Christabel natürlich, aber auch Marian. Fast immer, wenn ich die Augen aufschlug, war er da; er hatte sich einen Sessel aus dem Wohnzimmer herübergeschoben und schien darin nun seine Tage und Nächte zu verbringen. Mal trafen wir einander wach an, dann erzählte er mir von Finnland und den Wäldern, in denen er als Kind gespielt hatte. Mal fanden sich unsere Seelen zur gleichen Zeit in der Schattenwelt ein, wo wir schweigend das Nichts beobachteten und nach den Gestalten Ausschau hielten. Doch am häufigsten verpassten wir einander in beiden Welten.
Aber nicht nur Marian und Christabel schienen sich Sorgen um mich zu machen. Am vierten Tag war es jemand anderes, der mich wieder zudeckte, als ich das verschwitzte Oberbett von mir strampelte: eine hagere Gestalt mit mausbraunem Haar.
»Papa.«
Mein Vater nickte stumm. Wie immer machte er einen abgekämpften und übermüdeten Eindruck. Tiefe Ringe lagen unter seinen Augen und seine Hände zitterten ein wenig, als er damit meine Decke glatt strich. Doch er betrachtete mich wider Erwarten nicht mit einem Blick, mit dem man einen Staatsfeind musterte. Ein wenig distanziert zwar, das schon, aber nicht feindselig. Voller Sorge, wenn man genau hinsah. »Flora«, murmelte er.
Ich tastete nach seiner Hand. »Ich habe nicht …«, krächzte ich tonlos, denn ich wollte ihm endlich erklären, was wirklich bei den Pyramiden geschehen war. Doch meine Lider flatterten zu sehr und die Worte entglitten mir, ehe ich sie aussprechen konnte.
»Nicht jetzt«, sagte mein Vater und entzog mir seine Hand. »Wir sprechen später darüber.«
Ein anderes Mal waren es die fleischigen Unterarme von Madame Mafalda, die auf den Sessellehnen neben meinem Bett lagen, als ich erwachte. Ich hatte die Schwester des Großmeisters seit Wochen nicht mehr in der realen Welt gesehen und so staunte ich wieder einmal darüber, wie viel fetter sie in Farbe aussah. Anscheinend machte das Schwarz-Weiß der Schattenwelt einen schlanken Fuß, überlegte ich und fragte mich gleichzeitig, ob ich fantasierte.
Insgesamt dauerte es fast eine Woche, bis ich begann, mich ein wenig besser zu fühlen. Auch in der Schattenwelt hatte ich in den vergangenen Nächten kaum noch meine Koje verlassen, weil ich mich so schwach gefühlt hatte. Vermutlich hatte die Grippe auch meine Seele in Mitleidenschaft gezogen. Deshalb war es ein kleiner Triumph für mich, als ich in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag fit genug war, um aufzustehen.
Ich fand den Großmeister und Marian mal wieder über einer Karte brütend vor. Von Amadé hingegen fehlte jede Spur, anscheinend befand sie sich noch in der realen Welt.
»Guten Abend, die Herren«, sagte ich. Die beiden Männer staunten nicht schlecht, als ich mit wackligen Schritten näher trat. »Irgendeine Ahnung, wo wir uns befinden?«
Marian schüttelte den Kopf. Fluvius Grindeaut hingegen nickte. »Wenn die Koordinaten stimmen, die du mir gebracht hast, ist es nicht mehr weit«, erklärte er. »Vielleicht noch ein, zwei Tage und Nächte.«
»Oh, gut«, sagte ich und versuchte, Marian unauffällig zuzublinzeln.
»Hast du was im Auge?«, fragte der.
Ich
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