Nacht aus Rauch und Nebel
…
Doch er kam nicht. Stattdessen fühlte ich festen Grund unter meinen Füßen. Ungläubig sah ich mich um, aber es bestand kein Zweifel: Fluvius Grindeauts Plan hatte funktioniert. Vor mir erkannte ich das Orgelschaltpult, mein Rücken lehnte an der Tür zum Frachtraum.
Außer mir war niemand hier. Selbst Ylva musste aufgewacht sein, aus ihrem Gefängnis drang jedenfalls kein Mucks. Immerhin fühlte ich mich etwas besser, denn meine Erkältung war in der realen Welt bei meinem Körper geblieben. Doch was sollte ich tun, ganz allein inmitten des Nichts?
Unentschlossen ging ich hinüber zum Schaltpult. Meine Fingerkuppen strichen über die blinkenden Knöpfe des Steuerungsmoduls, das uns anscheinend gerade auf Autopilot durch die unendlichen Weiten manövrierte. Daneben lag der Bogen Papier, über den sich Fluvius Grindeaut die halbe Nacht lang gebeugt hatte. Inzwischen war er mit zahlreichen Linien und Kreisen bedeckt, auf die ich mir keinen Reim machen konnte. Ich vermutete jedoch, dass der alte Mann tatsächlich versuchte, das Nichts zu kartieren. Bloß was waren seine Anhaltspunkte?
Vor den Fenstern jedenfalls hatte sich das Bild in den letzten Stunden nicht verändert, was bedeutete, dass dort noch immer rein gar nichts zu erkennen war.
Eine Weile starrte ich in die Düsternis hinaus. Es stimmte, man konnte es nicht fassen, der menschliche Verstand war nicht dazu gemacht, so etwas zu verstehen. Dennoch hatte ich nicht das Gefühl, verrückt zu werden, ganz im Gegenteil. So viele Menschen glaubten, das Nichts würde unsere Seelen auf die Dauer wahnsinnig machen, doch ich bezweifelte, dass das stimmte. Bei mir jedenfalls war es anders. Je länger ich das Ungeheuerliche betrachtete, umso weniger absurd erschien mir der Gedanke, dass es Dinge in unserer Welt gab, die wir Menschen nun einmal nicht verstehen konnten. Mit dem Nichts vor Augen fiel es mir immer leichter, diesen Umstand auszuhalten.
In diesem Augenblick jedoch veränderte sich etwas. Reflexartig wich ich einen Schritt zurück. Denn dort draußen war etwas. Dieses Mal hatte ich keinen Zweifel. Wie schon in der vergangenen Nacht erkannte ich die Umrisse von etwas Großem, das sich in einiger Entfernung zwischen den nebligen Schwaden des Nichts an unserem Schiff vorbeischob. Doch das war nicht alles.
Mir klappte der Mund auf. Dort draußen wanderte jemand umher!
Schemenhafte Gestalten glitten durch das Nichts. Sie hatten weder Gesichter noch Körper. Ich sah keine Augen oder Nasen, nur flatterndes Haar aus Rauch und dürre Finger aus Nebelfetzen, die lautlos am Rumpf des Schiffes kratzten. Und Münder, die stumme Schreie formten. Waren das die Seelen der Verlorenen, die nun auf ewig durchs Nichts irrten? War dies alles, was von jenen übrig geblieben war, die das Nichts verschlungen hatte?
Eine Gänsehaut fraß sich über meine Schultern meinen Nacken hinauf, während sich ein Ziehen in meiner Brust ausbreitete. Ich keuchte auf. Was hatte das zu bedeuten?
Ein Knirschen ertönte, wo die Fingernägel der Gestalten über die Außenhaut unseres Schiffes glitten. Ich zwang mich, wieder näher an das Fenster heranzutreten. Was ging dort draußen vor sich? Ich hätte einiges darum gegeben, Marian in diesem Moment bei mir zu haben, doch ich war allein. Ich holte zitternd Luft und richtete meinen Blick erneut auf die grauenhafte Szenerie und –
Erkannte eine Hand. Eine menschliche Hand.
Vor dem Fenster.
Ich vergaß zu blinzeln und in meinem Kopf breitete sich Stille aus, ein weißes Rauschen aus Angst und Verwirrung. Ich konnte nichts anderes tun, als dazustehen und diese Hand zu betrachten, die ganz langsam über den Fensterrahmen strich. Eine Hand, die in einem Ärmel aus dunkler Spitze steckte.
Dunkle Spitze, wie sie die Dame trug.
Später am Tag riss mich ein rasender Kopfschmerz aus dem Schlaf. Als ich die Augen öffnete, stand Christabel neben meinem Bett. Sie hatte eine Schale mit Hühnersuppe auf meinem Nachttischchen platziert und betrachtete mich mit sorgenvoller Miene.
»Im Nichts sind Menschen«, krächzte ich und verzog das Gesicht, weil mein Hals dabei höllisch wehtat. »Da wandern Leute herum und ich glaube, die Dame –«
»Schhhh«, machte Christabel. »Du hast Fieber. Wie fühlst du dich?«
»Beschissen.«
Sie rümpfte die Nase und deutete auf die Suppenschale neben meinem Kopfkissen. »Du solltest das da essen.«
Ich nickte, konnte mich jedoch vorerst nicht dazu durchringen, mich aufzusetzen und nach dem Löffel zu
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