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Nacht aus Rauch und Nebel

Nacht aus Rauch und Nebel

Titel: Nacht aus Rauch und Nebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ma2
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Die fellbespannten Wände flatterten im Wind, von dem ich beim besten Willen nicht sagen konnte, wo er herkam. Wir hielten inne.
    »Sie sind alle tot«, sagte Amadé. »Das Nichts hat sie gefressen und nur diese Geisterstadt zurückgelassen.«
    Der Großmeister seufzte.
    Konnte das wirklich sein? Waren alle gestorben?
    »Was ist?«, fragte Marian und musterte mich mit einem eindringlichen Blick.
    Ich runzelte die Stirn. »Was soll sein?«
    »Du hast gerade den Kopf geschüttelt.«
    »Echt?« Ich hatte es überhaupt nicht bemerkt.
    »Glaubst du etwa, hier lebt noch jemand?«
    Bevor ich antwortete, lauschte ich einen Augenblick lang der Stille um uns herum und je länger ich horchte, umso weniger leer erschien mir der Schlund. Es war, als läge ein Singen in der Luft, ein feines Murmeln, Gedanken, die gedacht wurden, Luft, die geatmet wurde. Geister? »Ja«, sagte ich schließlich und senkte meine Stimme zu einem Wispern. »Wir sind hier nicht allein.«
    Amadés Kopf schnellte in meine Richtung. Der Großmeister hob die buschigen Brauen.
    »Was macht dich da so sicher?«, fragte Marian, als seine Gestalt plötzlich aufflackerte und im nächsten Moment zu verblassen begann. »Scheiße«, stieß er hervor. »Das ist mein Wecker, ich muss zu meiner Wache bei den Zwill–« Er verschwand, ehe er seinen Satz beenden konnte.
    Ich zuckte mit den Achseln. Blieben noch Amadé und Fluvius Grindeaut, die mich erwartungsvoll ansahen. Vor meinem geistigen Auge sah ich das Gesicht des Mantikors, der mir aufmunternd zunickte. Fürs Erste legte ich deshalb den Finger an die Lippen und bedeutete den beiden, mir zu folgen.
    Das Singen schien von Westen zu kommen. Wie von einem unsichtbaren Faden gezogen, bewegte ich mich in diese Richtung, lief einfach unter dem Viadukt hindurch, vorbei an den Hütten und Gräbern und durch eine von verfallenen Marktständen gesäumte Straße, bis wir schließlich vor der Treppe des Aztekentempels standen. Es war eine gewaltige Treppe, zusammengesetzt aus unzähligen Steinquadern, jeder so mächtig, dass man sich fragte, wie die Menschen damals es überhaupt geschafft hatten, ihn zu bewegen. Ein bisschen erinnerte mich der Bau an die Pyramiden von Giseh. Auch er hatte eine quadratische Grundfläche und verjüngte sich nach oben hin. Auch er musste schon uralt sein. Doch heute war es nicht das verheißungsvolle Rufen des Weißen Löwen, das mich lockte. Im Gegenteil, ich verspürte nicht das geringste Bedürfnis, meinen Fuß auf diese Stufen zu setzen, dafür fürchtete ich mich viel zu sehr vor dem, was mich dort oben erwarten mochte. Doch das Atmen war nun noch deutlicher zu spüren. Und solange noch die winzigste Hoffnung bestand, den Gelehrten lebend zu finden, durfte ich nicht aufgeben. Ich musste meine Furcht überwinden.
    Ich begann mit dem Aufstieg.
    Wir kamen nur mühsam voran. Vor allem der Großmeister geriet von Stufe zu Stufe mehr ins Straucheln. Nach der Hälfte der Treppe packten Amadé und ich ihn jeweils unter einer Achsel und hievten ihn zwischen uns hinauf. Die ganze Zeit über sprachen wir nicht, nur dann und wann spürte ich Amadés misstrauischen Blick auf meinem Gesicht. Unser Keuchen erfüllte die Luft und vermischte sich mit dem unterschwelligen Singen, das mittlerweile seinen ganz eigenen Sog entfaltet hatte. Immer weiter schleppten wir uns hinauf. Als wir endlich die obere Plattform des Tempels erreichten, war ich trotz der allgegenwärtigen Kälte Eisenheims nass geschwitzt.
    Im Vergleich zur gigantischen Treppe war die Hütte, die auf dem Gipfel des Tempels thronte, geradezu lächerlich klein. Kaum ein paar Quadratmeter groß und kreisrund hockte sie in der Mitte der Fläche. Auch bei ihr bestanden Dach und Wände aus Fellen. Aus modrigen, löchrigen Fellen, die sich im Wind kräuselten wie die Haare einer Hexe. Das Atmen wurde lauter, ein Röcheln, das aus dem Innern der Hütte hervorquoll.
    Langsam näherte ich mich dem Geräusch, schob mich Zentimeter für Zentimeter an das winzige Haus heran, bis ich ein loses Stück Fell entdeckte, das so etwas wie die Tür sein mochte. Mit zitternden Fingern griff ich danach und zog es zur Seite. Es zerfiel, kaum dass ich es berührt hatte.
    Drinnen herrschte vollkommene Dunkelheit. Ein süßlicher, abgestandener Geruch schlug mir entgegen. Ich blinzelte in die Schwärze hinein und winkte Sieben zu mir herüber. Doch sein Licht richtete kaum etwas aus. Es wurde von unzähligen Staubpartikeln zurückgeworfen, die sich uns in einer Wolke

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