Nacht Der Begierde
darstellten, als echten Bonus betrachten.
Aber abgesehen vom Luxus war es die Sicherheit, die zählte. Sollte ich tatsächlich der einzige weibliche Werwolf in der ganzen Gegend sein, dann wäre ich nicht nur ein Ziel für meine möglichen Gefährten. Ich wäre außerdem eine Zielscheibe für die Feinde des Rudels, und dasschloss auch streunende Wölfe ein, die sich vom Rudel losgesagt hatten. Selbst wenn ich wüsste, wie ich die Metamorphose von der menschlichen zur wölfischen Gestalt bewerkstelligen könnte, und die Instinkte und Fähigkeiten beherrschte, die damit einhergingen, selbst wenn ich mir sicher sein könnte, niemanden zu verletzen, wäre es dumm, mich eines knappen Dutzends ergebener Leibwächter zu berauben.
Mein bisheriges Leben war endgültig vorbei. Meine Pläne für die Zukunft, nun ja, immerhin hatte ich schon ein wichtiges Ziel erreicht: Ich wusste jetzt, wer meine richtigen Eltern waren.
Ich ließ alles sacken, bis es mir schwer im Magen lag und ich mich ganz wirr im Kopf fühlte. «Weißt du, ich hatte als Kind solche ‹Heimliche-Prinzessin-Phantasien›», erzählte ich David. «Dass irgendwann, eines Tages, meine echte Familie auftauchen und sich herausstellen würde, ich wäre in Wirklichkeit eine Prinzessin. In meiner Phantasie kam allerdings nicht vor, dass mir bei Vollmond Reißzähne und ein Fell wachsen würden.»
Auch von einem markerschütternd heulenden Prinzen hatte ich nicht geträumt. Und Orgien hatten auch nicht auf dem Programm gestanden. Mein Vorstellungsvermögen erschien mir mit einem Mal beklagenswert unzulänglich.
Er antwortete nicht. Vermutlich überlegte er sich, dass es darauf zu Recht keine gute Antwort geben könnte. Nach einer Weile stellte ich fest, wie kalt und hart sich Stein an meinem Hintern anfühlen konnte. Steif stand ich auf. Ich wartete darauf, dass mein Babysitter wieder die Führung übernahm, und folgte ihm schweigend aus dem Labyrinth.
Als wir wieder ins Freie traten, nahm ich mir Zeit für einen eingehenden Blick auf das Haus. Es war ein weitläufiges Ziegelgebäude, das zwölf Personen mehr als ausreichendenPlatz bieten dürfte. Wahrscheinlich könnte es die doppelte Anzahl an Menschen beherbergen, ohne dass sich jemand eingeengt fühlen müsste. Welches Zimmer man mir auch zuweisen würde, meine derzeitige Wohnung würde bestimmt mindestens zweimal hineinpassen.
Der Entwurf des Hauses wirkte anmutig, klassisch. Wer immer es geplant haben mochte, hatte ein Auge für Schönheit und die Fähigkeit, seine Vorstellungen in die Realität umzusetzen. Es wirkte sehr solide, und ich vermutete, dass es mehr als hundert Jahre alt war.
Dieses Haus hatte bestimmt schon eine Menge erlebt. Das Rudel hatte seinen Fortbestand seit frühester Zeit behauptet, wenn ich meinen Internet-Recherchen trauen konnte. Die slawische Mythologie geht bis ins Neolithikum, vielleicht sogar noch weiter zurück. Was durchaus Sinn ergibt, wenn man davon ausgeht, dass die menschliche Rasse und die Gestaltwandler eine gemeinsame Evolutionsgeschichte haben.
Aber ich wollte ja meine eigenen Wurzeln erforschen, erinnerte ich mich selbst. Es war zu spät, den Zeiten nachzutrauern, in denen ich noch nach der Devise ‹Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß› gelebt hatte. Vor allem, da das in meinem Fall eine ernsthafte Gefahr darstellen würde.
«David.» Er blieb stehen, als ich ihn ansprach, und drehte sich zu mir um. «Willst du Rudelführer werden?»
«Nicht wirklich.» Seine Stimme und sein Gesichtsausdruck wirkten unbeteiligt und verrieten keine Regung, aber ich meinte, bei ihm eine gewisse körperliche Anspannung zu bemerken.
«Warum hast du mich dann geküsst?»
Seine grauen Augen begannen zu glühen. «Ich habe nicht gesagt, dass ich dich nicht will.»
Oh. Ich musste mich bemühen, nicht über meine eigenen Füße zu stolpern, während ich diesen Satz sacken ließund mir sagte, ihm nicht allzu viel Bedeutung beizumessen. Natürlich wollte er mich. Er war ein männlicher Werwolf, während ich ein Weibchen kurz vor der Brunft war. Natürlich war er geneigt, die Gunst der Stunde für sich zu nutzen, und der bevorstehende sexuelle Wettbewerb bot gewisse Freiheiten, sich auszuleben und zu genießen.
Trotzdem war es schön zu hören, dass er mich ohne Hintergedanken schlicht und einfach begehrte.
Wir gingen zurück ins Haus, ohne weitere Worte zu wechseln. Mein Kopf war voll mit Fakten und Mutmaßungen. Überspannung. Ich sehnte mich nach einem Bad und nach Schlaf.
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