Nacht der Füchse
dunkel, dass man ihre eigentliche Farbe nicht zu bestimmen vermochte. Der Mund war ausdrucksvoll und schien auf ein ironisches Lächeln festgelegt. So sah ein Mann aus, der das Leben enttäuschender gefunden hatte als erhofft.
Seit seiner Entlassung aus dem Krankenhaus waren drei Mo nate vergangen, und es war ihm schon lange nicht mehr so gut gegangen. Die Brustschmerzen hatten aufgehört, außer wenn er es wieder einmal übertrieb, dafür litt er unter entsetzlicher Schlaflosigkeit. Er konnte nachts nur selten schlafen. Kaum ging er zu Bett, schien sein Gehirn überaktiv zu werden. Aber damit musste man rechnen. Zu viele Jahre auf der Flucht, zu viele nächtliche Aktionen, zu viel Gefahr aus allernächster Nä he.
Er war für Munro nicht mehr einsatzfähig, das hatten die Ärzte klargestellt. Er hätte nach Oxford zurückkehren können, aber das war auch keine Lösung. Es kam auch nicht in Frage, an dem Buch weiterzuarbeiten, das er 1939 unterbrochen hatte. Wenn er im Krieg überhaupt etwas gelernt hatte, dann das. Also war er so gründlich ausgestiegen wie nur irgend möglich. Das Strandhäuschen in Dorset, jede Menge Bücher, genug Raum, um sich selbst zu finden.
»Teufel, aber wohin bist du verschwunden, Harry?«, fragte er mürrisch und nahm den Klippenweg in Angriff. »Ich finde dich nicht mehr!«
Das Wohnzimmer des alten Häuschens war recht gemütlich eingerichtet. Perserteppich auf Kachelboden, ein Esstisch und mehrere geflochtene Stühle, und überall Bücher, nicht nur in den Regalen, sondern auch in der Ecke gestapelt. Keines davon gehörte ihm. In diesem Haus gehörte ihm überhaupt nichts – außer ein paar Kleidungsstücken.
Links und rechts des Steinkamins standen Sofas. Er legte
Holzbrocken in die Glut, kippte einen Scotch herunter und schenkte nach. Dann setzte er sich und griff nach dem Notiz block, den er auf dem Seitentisch hatte liegen lassen. Gedicht zeilen standen darauf, die er laut vorlas.
Der Bahnhof ist unheilvoll um Mitternacht. Die Hoffnung ist ein toter Brief. Er lächelte schief und ließ den Notizblock auf den Tisch fallen. »Gib’s zu, Harry«, murmelte er, »du bist ein mieser Poet.«
Plötzlich machte sich der enorme Mangel an Schlaf bemerk bar, die Müdigkeit überrollte ihn wie eine Woge. In der Brust, in der linken Lunge setzte ein leichter Schmerz ein, ein Druck, der ihn natürlich wieder nach Lyon zurückversetzte an jenen letzten, schicksalhaften Tag. Wäre er nur ein wenig aufmerk samer gewesen, hätte es nicht dazu kommen können. Aber so war der Kelch einmal zu viel zum Brunnen gegangen – oder vielleicht hatte ihn schlichtweg das Glück im Stich gelassen. Er sank in tiefen Schlaf, und die Bilder kehrten überdeutlich zu rück.
Standartenführer Jürgen Kaufmann, Leiter der Gestapo in Ly on, trug Zivil, als er an jenem Tag die Rathaustreppe herabkam und hinten in den schwarzen Citroen einstieg. Sein Fahrer war ebenfalls in Zivil, denn donnerstags nachmittags besuchte Kaufmann seine Geliebte und wollte nicht auffallen.
»Nicht so schnell, Karl«, sagte er zu seinem Fahrer, einem Scharführer, der schon seit zwei Jahren unter ihm diente. »Wir sind ein bisschen früh dran. Ich habe ihr gesagt, ich würde nicht vor drei Uhr da sein, und sie mag keine Überraschun gen.«
»Zu Befehl, Standartenführer.« Lächelnd fuhr Karl los.
Kaufmann öffnete eine Berliner Zeitung, die er am Morgen mit der Post erhalten hatte, und lehnte sich zurück. Der Wagen fuhr durch die Vororte und schließlich über Land. Es war eine schöne Gegend. Apfelplantagen säumten die Straße und erfüll ten die Luft mit ihrem Geruch. Im Rückspiegel fiel Karl ein Motorrad auf, das hinter dem Wagen herfuhr und ihm auch auf die Nebenstraße nach Chaumont folgte.
Er sagte: »Seit einiger Zeit hängt ein Krad an uns dran, Stan dartenführer.« Er zog eine Luger aus der Tasche und legte sie neben sich auf den Sitz.
Kaufmann schaute durch das Rückfenster und lachte. »Sie scheinen über den Wolken zu leben, Karl. Das ist doch einer von uns.«
Der Motorradfahrer fuhr neben dem Wagen her und winkte. SS-Feldgendarmerie – Helm, dicker Uniform-Regenmantel, eine Schmeisser-MPi vor der Brust unmittelbar unter dem me tallenen Ringkragen der SS-Feldgendarmerie, der nur getragen wurde, wenn der Mann im Dienst war. Das Gesicht hinter der Schutzbrille war nicht auszumachen. Wieder hob der Mann die behandschuhte Rechte.
»Er muss eine Nachricht für mich haben«, sagte
Weitere Kostenlose Bücher