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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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im Keller.
    »… finde ich es doch eine skurrile Idee, Karotten und Lehrer auf Bildern parallel zu postieren«, sagte HD Bruhns gerade. »Von jetzt an lassen Sie unsere jungen Künstler Stillleben malen. Pfirsiche. Äpfel. Antike Amphoren voll Vanillepudding. Wenn es sein muss, Schokoladenpudding.«
    »Wie Sie wünschen, Herr Direktor«, antwortete Kahlhorst. Hätte Bruhns die bunten Flügel gesehen, die Zentimeter für Zentimeter auf seinem Rücken nachwuchsen, hätte ihn das sicher beunruhigt.
    Auf dem kalten Kellerboden leuchtete etwas Gelbes. Kahlhorst entdeckte es bereits von Weitem. Kunstlehrer haben gute Augen, vor allem für Farben.
    »Die Decke hier muss unbedingt mal wieder gestrichen werden«, sagte Kahlhorst. HD Bruhns hob den Blick zur Decke, und Kahlhorst trat rasch auf das Gelbe, ehe auch Bruhns es sah.
    »Tatsächlich?«, fragte der HD. »Dann streichen Sie sie.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Ich muss weiter. Und wenn Sie mit Ton arbeiten: Lassen Sie die Schüler keine zu absurden Dinge aus Ton kreieren. Vasen, Kahlhorst. Einfache Vasen.«
    Kahlhorst nickte. Erst als Bork Bruhns und sein ungewöhnlich dunkler Schatten die Treppe hinauf verschwunden waren, trat er beiseite und hob das Farbige auf, das jetzt etwas zerknautscht aussah. Es war eine Blüte, ganz aus sonnengelben Federn. In ihrer Mitte glänzte ein runder Spiegel, in den Kahlhorsts eiliger Schuh ein Netz aus feinen Spinnenrissen getreten hatte. Aus diesem Netz blickte ihm sein eigenes Gesicht entgegen, gefangen wie eine Fliege.
    »Seltsam«, sagte Kahlhorst zu sich selbst. »Überaus seltsam.«
    Er glättete die Blüte behutsam und steckte sie in die Tasche seines abgewetzten Jacketts. »Stillleben«, murmelte er. »Vasen. Okay. Aber wieso Vanillepudding?«
    Nachdem am Wochenende gar nichts geschehen war, geschah an diesem Montag alles auf einmal. Frederic sah in der sechsten Stunde aus dem Fenster und träumte (genau wie in der fünften, vierten, dritten und überhaupt in jeder Stunde), als er unter den Bäumen an der Mauer eine Bewegung bemerkte. Jemand stand da im Schatten, jemand, der beinahe mit diesem Schatten verschmolz und sich viel Mühe gab, genau das zu tun. Er musste schon eine ganze Weile dort stehen, denn Frederic hatte ihn nicht kommen sehen. Was den Jemand verriet, war nicht sein Körper, denn er trug einen dunkelgrauen Anzug, der Teil der Mauer hätte sein können. Was ihn verriet, war sein eigener Schatten. Ein Schatten, dunkler als die Schatten der Bäume, tiefer und schwärzer. Etwas Helles blitzte im Schatten auf und war wieder fort. Zähne. Es war niemand anderer als HD Bruhns.
    Warum versteckte sich Bruhns auf seinem eigenen Schulhof?
    Jetzt, wo Frederic wusste, dass er da war, war es ein Leichtes, ihn zu beobachten. Der Direktor wippte unruhig auf den glänzenden schwarzen Schuhen, warf einen Blick auf die Armbanduhr … Er wartete.
    Frederic sah den, auf den er wartete, ehe Bruhns ihn sah. Er stieg aus einem der zerborstenen Fenster des Abrisshauses neben St. Isaac. Dann kletterte er auf die Mauer. Es war ein alter Mann, sein Gesicht faltig und knitterig wie zerknülltes Papier. Unter dem Arm trug er eine lederne Aktentasche und auf dem Kopf einen verbeulten Hut. Überhaupt alles an ihm erschien verbeult oder gebraucht: das graue Hemd, das vielleicht einst weiß gewesen war, die weinrote Weste, deren Knöpfe fehlten, das Jackett, das an den Schultern und Ellenbogen speckig glänzte. Dennoch strahlte der alte Herr eine gewisse Würde aus, während er die Mauer entlangbalancierte, in einer Hand einen Gehstock mit gekrümmtem Griff. Was hatte ein alter, abgewetzter Mann im Abrisshaus zu suchen, wo außer streunenden Katzen nur noch das Unglück in den Wänden wohnte? Jetzt hatte er Bruhns erreicht …
    »Frederic«, sagte die Meier-Travlinski, »du möchtest uns sicher erklären, wie man dieses Klimadiagramm auswerten kann.«
    Frederic riss seinen Blick vom Schulhof los und versuchte zu begreifen, worum es ging. Die Meier-Travlinski starrte ihn an und schien darauf zu warten, dass er irgendetwas tat. Über ihr Gesicht zog sich eine feine Zeichnung von Linien, und Frederic betrachtete sie interessiert. Es waren Breiten- und Längengrade. Der Nullmeridian verlief genau über die Nasenspitze der Meier-Travlinski.
    »Weißt du überhaupt, auf welcher Seite im Buch wir sind?«, fragte sie schließlich.
    Frederic hörte, wie sich jemand räusperte, und sah sich um. Änna. Sie hatte sich in seine Richtung gebeugt

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