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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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und schien Luft zu holen, um ihm die Seitenzahl zuzuflüstern, doch Frederic schüttelte kaum merklich den Kopf. Änna begriff, sank in ihre gewöhnliche, teilnahmslose Position zurück und schwieg.
    Im Spiegel sah Frederic, wie Josephine ihre scharfen Augen wieder von Änna abwandte. Sie durfte es nicht merken. Sie durfte nicht merken, dass Änna ihre Träume wiederhatte.
    »Seite 35«, sagte die Meier-Travlinski. Frederic schlug Seite 35 auf. Ein sinnloses hellblaues Klimadiagramm reckte sich ihm schadenfroh entgegen. Er musste das hier irgendwie hinter sich bringen, um wieder aus dem Fenster sehen zu können. Mist. Er hatte keine Ahnung, was die Linien in dem Diagramm bedeuteten.
    »Regen«, sagte er vage. »Es geht um Regen …« Himmel, war ihm der Regen egal.
    »Der Niederschlag«, erklärte die Meier-Travlinski spitz, »ist nun das Einzige , das nicht in dem Diagramm verzeichnet ist.« Die Klasse lachte schallend.
    »Genau das meine ich«, sagte Frederic. »Dass er nicht verzeichnet ist. Er fehlt. In einem Klimadiagramm sollte der Niederschlag verzeichnet sein.«
    Der Nullmeridian der Meier-Travlinski zuckte, als sie die Nase nachdenklich krauste. »Da hast du allerdings nicht ganz unrecht.«
    Frederic atmete auf. Die Eisenhand des starken Georgs schnellte in die Höhe wie eine Feder, Josephine meldete sich ebenfalls, und so zog die Meier-Travlinski ihre Aufmerksamkeit von Frederic ab wie eine feindliche Armee. Uff. Er wartete, bis er sicher sein konnte, dass die Aufmerksamkeit an anderer Front kämpfte, dann lenkte er seinen Blick wieder aus dem Fenster, hinab in den Hof.
    Dort stand der alte Herr jetzt neben Bruhns. Er reichte ihm kaum bis ans Kinn. Die beiden waren in ein Gespräch vertieft, und Bruhns Zähne blitzten wieder. Schließlich schüttelten sie sich die Hände. Die Hand des Alten war rheumatisch und gekrümmt, Bruhns’ Hand schlank und blass wie ein Fisch. Einen Moment später sah der HD sich um, vergewisserte sich, dass niemand ihn beobachtete, und überquerte den Hof mit seinen langen, gebügelten Schritten, um durch die Vordertür wieder in sein offizielles Leben als Direktor einzutreten.
    War er wirklich so dumm, dass er die Fenster des Gebäudes vergessen hatte? Nein, sagte Frederic sich. Niemand sah aus diesen Fenstern. Niemand in St. Isaac kam auf die Idee, während des Unterrichts aus dem Fenster statt an die Tafel zu sehen. Niemand außer ihm.
    Der alte Herr unten im Schulhof kletterte zurück auf die Mauer. Doch er verschwand nicht wieder durch die Fenster des Abrisshauses. Er stieg auf der anderen Seite der Mauer in einen Bus, der gerade dort hielt. Frederic entzifferte die Nummer 13 auf der Anzeige. Er sah auf die Uhr. In zehn Minuten würde die Schulglocke klingeln. Zehn Minuten waren zu lang. Er hob die Hand, und die sorgsam gezupften Augenbrauen der Meier-Travlinski schnellten erstaunt in die Höhe.
    »Frederic?«, fragte sie. »Du möchtest etwas anmerken? Ich meine: Sehe ich richtig? Du meldest dich freiwillig?«
    »Ich muss heute früher gehen«, sagte Frederic. »Der Neffe des Enkels meines Großvaters mütterlicherseits feiert seinen hundertsten Todestag und ist krank.«
    Damit stand er auf, nahm seinen Rucksack und machte sich auf den Weg zur Tür.
    Die Meier-Travlinski starrte ihm mit offenem Mund nach. »Aber das …«, begann sie.
    »Vielen Dank für Ihr Verständnis«, sagte Frederic und schloss die Klassenzimmertür mit einem leisen Klicken hinter sich. Das Letzte, was er sah, war Ännas Gesicht. Er hoffte inständig, dass außer ihm niemand das Grinsen bemerkte, das in ihrem rechten Mundwinkel zuckte.
    Beim Hoftor warf er einen raschen Blick zurück zu den ehrwürdigen Mauern von St. Isaac. Die steinernen Engel über dem Haupteingang schienen ihm zuzublinzeln. Vielleicht hatten auch sie Bruhns Schatten satt, der jeden Tag den Boden unter ihnen verdunkelte. Vielleicht hatten sie die Stille satt, die das Gelächter früherer Zeiten ersetzte. Vielleicht hatten sie die gesitteten Gespräche der zukünftigen Firmenchefs und Politiker satt. Vielleicht hatten sie Josephine und ihre bissigen Hände satt. Vielleicht dachten die steinernen Engel, es würde Zeit, dass jemand sie bunt anmalte.
    Der Bus Nummer 13 fuhr alle sieben Minuten. Frederic setzte sich nach hinten. Ihm blieb nicht einmal Zeit, eine Fahrkarte zu kaufen. Hoffentlich kam kein Kontrolleur vorbei. Im Bus grinste ein Aufkleber, der erklärte, schwarzfahrende Kleinverbrecher hätten vierzig Euro extra zu

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