Nacht der gefangenen Träume
bezahlen. Frederic ignorierte den Aufkleber und sah aus dem Fenster, wo der Oktober die Straßen mit rotem Laub schmückte. Oktober-Passanten zogen ihre Oktober-Schals enger und niesten in Oktober-Taschentücher. Vor den Gemüseläden strahlten orangefarbene Oktober-Kürbisse, vor den Kleidergeschäften drängelten sich rotnasige Oktober-Frauen, und Kindergartenkinder trugen Oktober-Drachen unter den kurzen Armen.
Frederic suchte die Bürgersteige nach einem alten Herrn mit Stock und Aktentasche ab. Wo war der Alte ausgestiegen? Frederics Chance, ihn wiederzufinden, kam dem Nullwert bedrohlich nahe. Trotzdem. Der Bus bog in die Innenstadt ab, schlängelte sich durch schmale Gassen und hielt schließlich am Marktplatz, wo der Fahrer verkündete, dies wäre die Endhaltestelle. Dann zündete er sich unter dem Rauchverbotsschild eine Zigarette an.
Frederic stieg aus und stand eine Weile unschlüssig auf dem Kopfsteinpflaster des Marktplatzes herum. Verdammt. Der Alte war nicht hier. Und selbst wenn er hier war, würde er ihm wohl kaum im nächsten Moment auf die Schulter tippen. Enttäuscht ließ sich Frederic von der Menschenmenge zwischen die Marktstände fluten.
Er kam genau fünf Meter weit.
Dann tippte ihm jemand auf die Schulter.
Frederic fuhr herum und blickte in ein altes, faltiges Gesicht. Eine Hutkrempe verschattete die durchdringenden blauen Augen, und unter dem Gesicht kämpfte eine fleckige weinrote Weste mit einem angegrauten Hemd um die optische Vorherrschaft.
»Junger Mann«, sagte der Alte, seine Stimme knitterig wie eine stark gebrauchte Zeitung. »Kannst du mir sagen, wo ich Stecknadeln finde?«
»Stecknadeln?« Frederic starrte ihn an. Frag ihn! , rief eine verzweifelte Stimme in seinem Kopf. Frag ihn, frag ihn!
Der alte Herr hielt eine Liste in der Hand. »Und Fischköpfe«, sagte er.
»Fischköpfe?« Hör auf, seine Worte zu wiederholen! Frag ihn, was er mit Bruhns besprochen hat! Frag ihn, was er im Abrisshaus getan hat! FRAG IHN!
»Und Haarschleifen«, murmelte der Alte, »in Lila und Blassblau.«
Frederic versuchte, die Schrift auf der Liste zu entziffern.
»Rohes Steak«, las er laut. »Blutwurst, Knochen, Innereien … dahinten ist ein Metzger. Haben Sie eine Hundezucht oder so was?«
Eine Kleinhundezucht: die Haarschleifen. Investierte Bruhns das Privatschulgeld in eine Hundeschule voller Pekinesen und Rehpinscher?
Doch der alte Herr schüttelte den Kopf. »Keine Hunde. Wo kriege ich schwarze Tinte? Und Dinge wie Wut, Angst oder schwere Schritte? Außerdem bräuchte ich hundert Gramm Donnergrollen.«
Frederic musterte ihn perplex. »Vielleicht versuchen Sie’s mal mit Beethoven? Dahinten ist ein Musikladen.«
»Schön. Dann hätten wir da noch eine Handvoll frischer Blütenblätter, fünfundzwanzig rote Rosen, drei Englischlehrbücher, einen Stromausfall, zwei Eimer Strandsand, drei Meter weiße Seide …«
Der alte, gekrümmte Finger wanderte über die Liste. »Zwei festkochende Bananen, ein Glas saure Gurken … und eine tote Katze.«
Frederic schüttelte den Kopf. »Das begreife ich nicht. Wo ist der Zusammenhang?«
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete der Alte. Seine durchdringenden Augen schienen sich in Frederics Gesicht festzusaugen, und er musste sich zwingen, dem Blick nicht auszuweichen. Tote Katzen. Schwere Schritte. Der Alte war verrückt, kein Zweifel.
»Ich mache mich besser auf den Weg«, sagte der Mann jetzt. »Sie warten.« Damit drehte der Alte sich um und verschwand in der Menge, den Gehstock eilig schwingend.
»Wer?«, fragte Frederic seinen sich entfernenden Rücken. » Wer wartet?«
Er hechtete dem alten Herrn nach, schob gereizte Kinderwagen und geblümte Hausfrauen zur Seite, schlängelte sich zwischen Einkaufsnetzen und quengelnden Kleinkindern durch.
»Moment!«, rief Frederic. »Ich muss Sie etwas fragen! Was hat Bruhns …«
Der Alte drehte sich ruckartig um. Seine Augen trafen die von Frederic ein letztes Mal, und diesmal sah Frederic Furcht darin aufglimmen. War es der Name, der den Alten zusammenzucken ließ? Der Mann schlüpfte hastig durch eine Lücke zwischen zwei Gemüseständen in die nächste Marktgasse, und Frederic sprintete ihm nach. Hier standen die Blumenverkäuferinnen und zwischen ihnen ein paar dauergewellte Hobbygärtnerinnen, die fachkundig Ritterspornblüten darauf prüften, ob sie fest- oder mehlig kochend waren. Frederic blickte sich suchend um. Von dem alten Herrn jedoch gab es keine Spur – es war, als hätte
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