Nacht der gefangenen Träume
Bluntschli im Schlafrock war sehr lecker: in Liebe, Ottokar Müller. Doch plötzlich fiel ihm etwas anderes ein.
Die Blumen sind, um die Brandlöcher in deinem Feld zu flicken, schrieb er. Sie sehen fast so aus wie die Blumen aus dem Traum.
Die Fernglasaugen der Nachbarin fuhren ein paarmal aus und wieder ein wie ein Teleskop und sie schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht.«
»Brauchen Sie auch nicht«, sagte Frederic lächelnd und legte den Zettel zu den drei Sonnenblumen. Es würde reichen, wenn Änna es verstand.
In dieser Nacht erwachte Frederic von einem Pfiff. Einem scharfen, durchdringenden Pfiff.
Das Zimmer war dunkel.
Er sah an die Decke, reglos, nur leise atmend.
Jemand war da. Er konnte es spüren. Jemand war ganz nahe. Er hätte gerne den Kopf gewandt, um auf dem Digitalwecker nachzusehen, wie spät es war. Doch er wagte nicht, sich zu bewegen. Er hatte geträumt. Was war das gewesen, in seinem Traum? Einen Moment lang dachte er: Vanillepudding. Und er erschrak. Dann erinnerte er sich, dass er von Bruhns’ brummender Maschine geträumt hatte. Der Vanillepudding war an den Seiten aus ihr herausgequollen; eine gelbe, matschige Masse, und als Fyscher versucht hatte, die Maschine vorwärtszusteuern, war sie mit ihren Rädern auf dem eigenen Pudding ausgerutscht. Er sah noch HD Bruhns vor sich, der im Fahrerhäuschen der Maschine saß und eine Sonnenblume festhielt wie einen langen Lolli: Die blitzenden Zähne rissen gierig Blütenblatt um Blütenblatt vom Stängel – er hatte geträumt, und zwar seine eigenen, unverfälschten Träume.
Aber jetzt träumte er nicht mehr, oder? Warum hallte dann das Brummen der Maschine noch immer in seinen Ohren? Er hob den Kopf, Millimeter nur, und da sah er sie: die sieben Schläuche mit den sieben Saugnäpfen an ihren Enden. Die Saugnäpfe waren nicht an seinem Kopf befestigt, sondern verharrten einen Fingerbreit davon entfernt in der Luft, als könnten sie aus irgendeinem Grunde nicht näher kommen.
»Verflixt!«, hörte er jetzt eine bekannte Stimme murmeln. »Es muss doch gehen!«
Eine lange hagere Hand tauchte in seinem Blickfeld auf, ergriff einen der Saugnäpfe und versuchte, ihn an Frederics Stirn zu drücken. Er schloss die Augen bis auf einen Spalt. Niemand durfte merken, dass er wach war. Durch die halb geschlossenen Lider sah er die geschlängelten, bläulichen Adern auf Bruhns Hand im blassen Licht der Nacht.
»Sitzen die Saugnäpfe?«, hörte er Sport-Fyscher vom Fenster her flüstern.
Frederic beobachtete, wie Bruhns den Kopf schüttelte. »Ich begreife das nicht …«, wisperte er, »… genau wie letztes Mal …«
»Zuleitung frei, Ableitung frei«, meldete Fyschers Stimme. »Frau Ziesel meldet: Motor läuft. Und: Traum-Auffangsack eingespannt. Daran liegt es nicht.«
»Nein«, wisperte Bruhns, »daran liegt es nicht.«
Er nahm sein Gesicht aus Frederics Blickfeld. »Das gab es noch nie«, flüsterte er. »Nie. Aber bei ihm ist es schon der vierte Versuch.«
»Und sein Vater zahlt nicht einmal das ganze Schulgeld. Sie sollten es aufgeben.«
»Aufgeben?«, zischte Bruhns. »Sicher nicht. Es geht nicht um das Geld. Nicht in diesem Fall. Es geht darum …« Er verstummte. »Darum, wer von uns gewinnt. Er oder ich«, fügte er nach einer Weile hinzu. »Ich lasse mich nicht von einem dummen kleinen Jungen für blöd verkaufen. Er macht mich wütend. Dieser Junge, Fyscher, wird St. Isaac mit einem Einser-Abitur verlassen und Bankchef werden, genau wie alle anderen. Er wird das tun, was man ihm sagt, und keine Fragen mehr stellen und keine Ideen haben. Ich lasse nicht zu, dass jemand meine Pläne durchkreuzt. Ich …«
»Pst! Herr Direktor Bruhns! Nicht so laut!«
»Sagen Sie Frau Ziesel, sie soll die Maschine anwerfen. Wir versuchen es.«
»Obwohl die Saugnäpfe …? Ich denke, das ist keine gute Idee …«
»Und wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, Sie sollen nicht denken? Es steht Ihnen nicht, wenn Sie denken. Sie sind Sportlehrer, kein Philosoph. Also halten Sie den Mund und geben Sie meinen Befehl weiter.«
Gleichzeitig würde das, dachte Frederic, wohl schwierig sein.
Das Summen der Maschine schwoll an. Er spürte einen Sog an der rechten Schläfe. Und plötzlich wurde er panisch. Wenn es doch funktionierte? Wenn sie ihm die Träume aus dem Kopf saugten, während er wach war? Würde es wehtun? Mit einem Mal war es ihm egal, ob Bruhns wusste, dass er nicht schlief. Er versuchte, sich zur Seite zu rollen, sich der
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