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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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beobachte dich. Viel genauer, als du denkst. Ich beobachte euch alle. Ihr merkt es nicht, aber ich habe es von Anfang an getan. Deshalb hängt der Spiegel im Klassenzimmer. Damit die Aufpasser euch beobachten können. Es gibt in jeder Klasse einen Aufpasser. Man wird es nur, wenn man so schlau ist wie ich.«
    »Oder so dumm«, konterte Frederic.
    Hinter ihnen schob sich jetzt ein Strom von Kindern vorüber und verschwand im schattigen Maul von St. Isaac, um einen neuen, ideenlosen Tag zu beginnen. Kahlhorst ließ sich mit ihnen durch die Tür schwemmen und winkte kurz, als er Frederic sah. Seine gestutzten Flügel schienen an den Spitzen ein wenig nachgewachsen zu sein.
    »Ich«, flüsterte Josephine stolz, »bin eine von den Eingeweihten.«
    »Wenn du von Pudding sprichst, so viel weiß ich auch«, sagte Frederic und biss sich im selben Moment so fest auf die Zunge, dass er sein eigenes Blut schmeckte. Mist. War es genau das, was sie gewollt hatte? Hören, dass er Bescheid wusste?
    Doch auf ihrem spitzen, kalten Gesicht lag Erstaunen. »Du … weißt …? Aber du bist kein … Aufpasser?«
    »Auch ich bin ein Aufpasser«, antwortete Frederic. »Ich passe nur auf etwas anderes auf.«
    Auf die Ideen, wollte er sagen. Auf die Träume. Auf die Freiheit. Auf mich selbst. Auf … Änna. Vielleicht.
    »Quatsch«, sagte Josephine. » Ich bin die Aufpasserin in unserer Klasse. Und wenn du so weitermachst wie bisher, wirst du es bereuen, glaub mir. So jemanden kann ich in meiner Klasse nicht dulden. Jemanden, der Fünfen und Sechsen schreibt und mitten im Unterricht einfach aufsteht und geht. Ich bekomme eine Menge dafür, dass ich aufpasse.«
    »Was denn?«, fragte Frederic, ehrlich neugierig.
    Sie kam mit dem Mund ganz nahe an sein Ohr heran und wisperte: »Ich kann nicht nur zwischen Vanille- und Schokoladenpudding wählen. Oh nein.«
    »Sondern?« Ließen sie ihr ihre Träume? Unmöglich. Aber mit irgendetwas hatte Bruhns sie doch geködert?
    »Ich habe eine dritte Möglichkeit«, wisperte Josephine. »Erdbeerpudding.«
    Frederic sah sie an, ungläubig, dann fing er an zu lachen. Das Lachen füllte ihn von Kopf bis Fuß aus, er war wie ein Heißluftballon voll Lachen, und beinahe konnte er fühlen, wie er abhob. Doch dann geriet ihm das Lachen in die Kehle, und er glaubte, daran ersticken zu müssen. Es war kein fröhliches Lachen. Es schmeckte bitter wie Gift. Erdbeerpudding! Sie glaubte tatsächlich, etwas Besseres zu sein. Er wandte sich ab und trat durch die Tür unter den Steinengeln, ehe Josephine beginnen konnte, ihm leidzutun.
    Sie hielt ihn fest. »Du hast meine Frage nicht beantwortet. Was ist mit Änna? Steckt sie mit dir unter einer Decke?«
    »Ach, Änna.« Frederic machte eine abfällige Handbewegung. » Die dumme Gans. Keine Ahnung, warum sie mir vorsagen wollte. Aus irgendeinem Grund läuft sie mir nach. Dabei ist sie genauso ideenlos und langweilig wie ihr alle. Hundeöde, und das ist noch eine Beleidigung für den Hund.«
    Damit ließ er Josephine stehen und mischte sich unter die Masse der Schüler, die durch die Pausenhalle und die Treppen hinauf zu den Klassenzimmern strömten.
    Als er sich noch einmal umdrehte, hörte er das Schlorren von Eisen auf dem Boden und entdeckte, dass Änna hinter ihm ging. Sie warf ihm einen Blick zu, der Tonnen wog, und er sah eine Träne aus ihrem einen Auge rollen, lautlos. Verletzt.
    Hundeöde. Oh nein.
    Sie hatte mitgehört und nicht verstanden, dass Frederic sie nur schützen wollte.
    Im Unterricht sah Frederic wie stets aus dem Fenster. Die Kastanie verlor ihre ersten Blätter. Seine Augen suchten den alten Herrn mit dem abgewetzten Jackett, doch er war nirgendwo zu sehen. Frederics Blick wanderte durch den Hof, über die Mauer, wanderte zurück ins Klassenzimmer und blieb an einem zusammengefalteten Stück Papier hängen, das aus seiner halb offenen Stiftedose ragte.
    Jemand musste es kurz vor Beginn der Stunde hineingesteckt haben.
    Frederic vergewisserte sich, dass Claudius mit seinen Fischaugen nicht zu ihm herübersah. Dann entfaltete er den Zettel und las:
    Ich danke dir für die drei Sonnenblumen.
    Ich verstehe dich nicht. Warum hast du mir die Träume zurückgegeben? Und die Blumen vor meine Tür gelegt? Wenn du mich gar nicht leiden kannst?
    Ich laufe dir nicht nach. Ich dachte, du läufst mir nach.
    Ich hatte sogar Angst vor dir deswegen. Mir ist noch nie jemand nachgelaufen. Wohl auch diesmal nicht. Ich werde nicht mehr versuchen, dir

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