Nacht der gefangenen Träume
den Saugnapf in der Faust verborgen. Kurz darauf hörte er, wie Bruhns den Fußboden absuchte und dabei leise vor sich hin schimpfte.
»Hier muss doch irgendwo … ein Saugnapf kann sich doch nicht einfach in Luft auflösen!«
Er fühlte Bruhns’ kalten Schatten auf seinem Gesicht. Die Angst verkrampfte seine Magenwände zu einem kleinen harten Knoten. Ahnte Bruhns, dass er wach war? Er spürte seinen Atem auf den Wangen, einen Atem mit dem Geruch nach Macht und Furcht.
»Du denkst, du kannst mich auf den Arm nehmen«, zischte Bruhns. »Aber du irrst dich, mein Kleiner. Wenn ich dich in acht Tagen nicht geschafft habe … in acht Tagen, wenn die Träume ihre letzte Nacht erlebt haben … wirst du vielleicht mit ihnen gehen.«
Dann verließ er Frederics Zimmer mit einem unterdrückten Fluch und einer gewissen vorläufigen Endgültigkeit. Zumindest in dieser Nacht würde er nicht zurückkehren. Was jedoch würde in acht Tagen geschehen? Nach der letzten Nacht der Träume?
Das Brummen der Maschine entfernte sich durch die Dunkelheit und Frederic trat ans Fenster. Er dachte zurück an den durchdringenden Pfiff, der ihn geweckt hatte. War es der Pfiff einer Maschine voller Saugnäpfe gewesen?
Oder hatte jemand ihn warnen wollen?
Die Straße unten war leer wie eine Computerseite, ehe eine Geschichte beginnt. Frederic hob seinen Blick zu den Sternen, doch die Sterne waren nicht da. Graues Herbstgewölk hatte sich zwischen sie und die Stadt geschoben und zerrann nun in breite Streifen, die Frederic an die Gurte und Riemen erinnerten, mit denen man ihn festgeschnallt hatte. Vor den Wolken jedoch ragten die klobigen dunklen Umrisse des Balkons vom zweiten Stock in die Nachtluft. Und von jenem Balkon hing etwas herunter, etwas wie eine lange, sich windende Schlange. Es war keine Schlange. Es war der Schwanz einer Ratte, unterarmdick, leicht behaart und geringelt. Jemand stützte sich oben aufs Balkongeländer und sah nach unten. Frederic glaubte, im schwachen Licht das faltige Gesicht der alten Dame zu erkennen, die er aus der Falle befreit hatte. Was er gehört hatte, war nicht der Pfiff eines Menschen gewesen.
Sondern der Warnlaut einer Ratte.
Beim Frühstück legte Frederic die Lateinarbeit auf den Tisch. Hendrik unterschrieb die Fünf kommentarlos. Dann sah er auf und musterte Frederic.
»Was«, fragte er langsam und bedächtig, »hast du mit deinen Haaren gemacht?«
»Mit meinen Haaren?« Frederic tastete. »Ach, das! Das ist Vanillepudding.«
»Gibt es … einen besonderen Grund dafür, dass du ohne Vanillepudding in den Haaren einschläfst und mit Vanillepudding in den Haaren aufwachst?«
»Ich …«, begann Frederic. Jetzt hätte er es ihm erzählen können. Alles. In diesem Moment war er sooo nahe daran. So nahe, wie ein Blatt Papier dick ist. Doch der Moment verstrich, und er tat es nicht.
»Besser, ich wasche die blöden Haare noch vor der Schule«, sagte er und verschwand ins Bad.
Josephine fing ihn unter den steinernen Engeln von St. Isaac ab. Sie zog ihn beiseite, und die Mäuler an ihren Fingerkuppen verbissen sich dabei für einen kurzen Augenblick in den Stoff seines Sweatshirts.
»Ich bin nicht blöd!«, sagte sie. »In Erdkunde so einfach zu gehen … Ich weiß nicht, was, aber du führst etwas im Schilde.«
Frederic zog sein Sweatshirt aus ihren Fingerzähnen. »Kann kein Schild sehen«, antwortete er schroff. »Müsste wohl so ein Achtung-Schild sein, auf dem in einem roten Dreieck ›JOSEPHINE‹ steht.«
Sie starrte ihn an, verdutzt. »Das ist nur so eine Redensart mit dem Schild.«
»Danke, das weiß ich«, sagte Frederic. »Statt Josephine könnte man auf das Schild auch lauter kleine Zähne malen, was?«
Sie trat einen Schritt näher, so nah, dass ihre Nasenspitzen sich beinahe berührten. Er musste fast schielen, um sie anzusehen.
»Es ist mir nicht entgangen, dass Änna versucht hat, dir vorzusagen«, flüsterte sie. »Ist sie Teil deines Plans?«
»Ich habe keinen Plan«, antwortete Frederic. Was, dachte er, leider stimmte. »Ich hatte bloß keinen Bock mehr auf die blöde Meier-Travlinski und ihren öden Erdkundeunterricht.«
»Sie heißt Frau Meier-Travlinski«, verbesserte Josephine. Ihre Stimme war so spitz wie die Zähne an ihren Fingern. »Und ich glaube dir kein Wort. Kein einziges.«
Frederic verschränkte die Arme. »Nicht einmal die Hauptwörter?«
»Und du warst nicht in Erdkunde«, sagte Josephine, die auch diesen Witz nicht verstanden hatte. »Ich
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