Nacht der gefangenen Träume
Boden sitzen. Dann stand er auf und tastete nach dem besonderen Dietrich, den er in die rechte Hosentasche gesteckt hatte. Es war nicht für lange, nein. Er würde kürzer hier sein, als Bruhns sich hatte träumen lassen.
Doch die rechte Hosentasche war leer. Und auch in der linken gab es nichts außer ein Stück Tonband. Seinen Rucksack hatte Bruhns ihm gelassen. Erstaunlich, darin fand er die Decke, einen Kreuzschlitzschraubenzieher, einen Dreizehner-Schraubenschlüssel und den Schweizer, ein geerbtes Werkzeug, dessen Funktion sich ihm nie ganz erschlossen hatte. Es war auf jeden Fall nicht dazu gut, Türen zu öffnen. Und abschrauben konnte man die Tür auch nicht, sie hatte Sicherheitsschrauben.
Murphys Gesetz – jeder kennt es: Alles, was schiefgehen kann, wird schiefgehen.
Murphys Gesetz Nummer zwei: Wenn du einen besonderen Dietrich hast, wirst du ihn bei einem Kampf mit deinem Schuldirektor verlieren, draußen im hohen, taunassen Gras, draußen im Nebel, draußen bei den wispernden Stimmen.
Murphys Gesetz Nummer drei: Selbst wenn du den Mut aufbringst, zurückzugehen in den Nebel, zurück zu den wispernden Stimmen – du kannst es nicht. Die Tür nach draußen ist abgeschlossen. Weshalb du den Dietrich gebraucht hättest. Hähähä.
Frederic ließ sich langsam mit dem Rücken an der glatten Wand entlang hinuntergleiten. So hockte er lange da, gegen die Wand gelehnt, die Knie mit den Armen umschlungen, und starrte zitternd ins kühle Dunkel.
Murphys Gesetz Nummer vier: Falls du einsperrt wirst, geschieht es sicher nur dann, wenn keiner weiß, wo du bist.
Frederic ertastete die Wände seines Gefängnisses im Dunkeln, wie er es beim Lesen von Edgar Allen Poe gelernt hatte. Drei der Wände bestanden aus Gittern, der Boden aus Beton. Man konnte sich an den Gittern emporhangeln. So also fühlten sich Affen im Zoo. Oben huschten Traumknäuel eilig beiseite. Frederics Hände fühlten auch ein Gitter und wunderten sich nicht. Den Rest der Nacht verbrachte er zusammengerollt auf dem harten Beton, in dem vergeblichen Versuch, seinen Körper zu komprimieren, wie die Träume es taten, zu komprimieren gegen die Kälte. Es gelang ihm nicht. Er schwamm zwischen Wachen und Träumen hin und her. Gegen Morgen musste er endlich doch eingeschlafen sein, denn er erwachte von einer zarten Berührung an seiner Wange. Er zuckte zusammen. Die Berührung verschwand, erschrocken. Erst nach einer Weile kehrte sie zurück, behutsam, tastend … Frederic lag mit geschlossenen Augen da und atmete nur ganz leise. Jetzt war da eine weitere Berührung, an seiner Hand.
Die Träume. Das mussten die Träume sein.
Ihre Berührungen hatten nichts Bedrohliches an sich, sie waren scheu und zurückhaltend; sie erforschten den seltsamen Gegenstand, der in der Nacht in ihren Käfig geschubst worden war, mit äußerster Vorsicht. Frederic blinzelte.
Auf seiner Nase saß ein Schmetterling, groß und grün. Das Morgenlicht fiel in einzelnen Sträflingskleidungsstreifen durch die Ritzen unter der Decke der Halle und ließ die Flügel des Schmetterlings schillern. Frederic schielte ein wenig, um ihn besser zu sehen, und musste grinsen: Da er ein geträumter Schmetterling war, trug er rote Turnschuhe. Eine Handvoll anderer Träume hatte ihn umringt wie neugierige Goldfische, hatte sich entknäuelt und ausgedehnt: Ein geträumter Außerirdischer betastete Frederics Finger mit langen türkisen Kringelfühlern. Zu seinen Füßen wuchs ein geträumter Gletscher in die Höhe. Er konnte sich natürlich nicht zu seiner vollen Größe ausdehnen hier im Käfig, aber Frederic sah an seiner bläulich durchscheinenden Farbe und seiner Form gleich, dass es ein Gletscher war. Er leckte mit seiner Eiszunge an Frederics linkem Turnschuh und schien sich über den Geschmack zu wundern. Neben seinem Ellenbogen saß ein geträumter Geburtstag, den man gleich als solchen erkannte, da er ein großes HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH-Lebkuchenherz umhängen hatte. Er trug neue Fußballschuhe und die Pappkrone einer gewissen Hamburger-Fastfood-Kette im Haar, aß Smarties aus einer geträumten Smartiesschachtel und beobachtete Frederic.
Hinter ihm konnte Frederic durch das engmaschige Gitter den Mittelgang der Fabrikhalle sehen, in dem sich das wahnwitzige Gerüst aus Leitern und Brettern aufwärts erstreckte.
»An deinem Mund ist Schokolade«, sagte er zu dem Geburtstag. Der zuckte erschrocken zusammen, wischte sich mit der Hand über den Mund und schrumpfte ein Stück. Der
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