Nacht der gefangenen Träume
nicht. »Halt mal hier«, sagte er, »und das dort. Jetzt gib mir das Ende da drüben … so.«
Dann stand er auf und rief eine Botschaft in das leere Haus, rief einzelne Worte und lauschte jedem von ihnen nach, bis es in den alten Wänden verhallt war.
DAS. WAR. DIE. LETZTE. NACHT. DER. GEFANGENEN. TRÄUME.
»Räume, äume, me, e …«, sang das Echo.
Ehe Josephine etwas sagen konnte, packte Bork Bruhns sie und stieß sie unsanft in Richtung Treppe.
»Komm. Rasch.« Er zerrte sie mit sich die Stufen hinunter, in der anderen Hand etwas, das einer Fernbedienung für einen Fernseher glich. Als sie den Hof mit den rostigen Metalltonnen erreichten, sah Bruhns noch einmal an dem Haus mit den zerbrochenen Fensterscheiben empor.
»Leb wohl«, flüsterte er. »Lebt alle wohl.«
Dann drängte er Josephine durch die Lücke in der Mauer aus dem Hof und drückte auf den Knopf der Fernbedienung.
»DAS«, hallte es durch das leere Haus. »WAR. DIE. LETZTE. NACHT.«
»Das ist Bruhns!«, flüsterte Frederic. Änna nickte.
»DER!«, rief Bork Bruhns. »GEFANGENEN! TRÄUME!«
Frederic und Änna sahen sich an.
»Was meint er damit?«, fragte Änna.
Frederic öffnete den Mund, um zu antworten, doch an seiner Stelle antwortete das Haus. Seine Antwort war ein plötzlicher, alle Sinne betäubender Lärm, zu laut, um zu sagen, woher er kam. Gleichzeitig platzte der Boden unter ihnen auf. Er hob sich wie die Erdkruste bei einem Vulkanausbruch. Frederic spürte, wie er nach oben geschleudert wurde, gegen einen Balken stieß – dann fiel er. Um ihn herum fielen andere Dinge, sichtbare und unsichtbare: Stücke von morschen Balken, verdrängte Erinnerungsfetzen, Mauersteine, nie beigelegte Streitigkeiten, Dachziegel, geraubte Freiheit, Splitter von gläsernen Bilderrahmen. Einmal sah er im Durcheinander einen Arm. Er musste Änna gehören. Andere fallende Objekte schoben sich vor den Arm: vergessene Schatten, eine halbe Isomatte, nie erfüllte Wünsche, zwei leere Klopsdosen, zerfleischte braune Postpaketpappe, Staubwolken von verwehrter Anerkennung – und über allem lag ein unwirklicher Schleier aus herabregnenden gelben Birkenblättern.
Obwohl es sicherlich sehr schnell ging, kam es Frederic vor, als wäre er in eine unwirkliche Unterwasserwelt geraten: Eine riesige Schiffsschraube hatte Millionen Partikel einer seltsamen Art von Plankton aufgewirbelt. Diese Planktonpartikel drifteten nach oben, kreiselten im Strudel um die eigene Achse und sanken dann in waghalsigem Durcheinander zurück zum Grund eines uralten, schweigenden Ozeans. Sie vollführten im Wasser einen namenlosen Tanz; sprühten in die fünf Himmelsrichtungen auseinander. Und all das taten sie lautlos, schwebend, in Zeitlupe.
Frederic selbst war nur ein Stückchen Plankton, auch er aufgewirbelt und nun wieder auf dem Weg nach unten. Zuletzt legten sich die Partikel des Unglücks in den Wänden. Er sah sie fallen …
Als er landete, wich die Vision abrupt, und ein scharfer Schmerz schnellte durch seinen ganzen Körper. Jemand stellte den Ton wieder an: Er hörte die anderen Planktonpartikel, die keine Planktonpartikel waren, um sich herum zu Boden krachen. Etwas traf ihn an der Schulter. Er lag in einer Staubwolke, hustete; blieb einen Moment lang mit geschlossenen Augen liegen. In seinem Kopf flogen die Worte durcheinander und legten sich erst allmählich, genau wie die Trümmer des Hauses nach der Explosion:
Die. Spreng. Nacht. Letzte. Stoff. Träume. Der. Gefangenen.
Frederic wartete, bis die Worte sich geordnet hatten. Dann öffnete er die Augen und kroch unter einem Berg aus Staub und Schutt hervor. Sein Wollpullover war am linken Arm zerfetzt und zuerst ärgerte er sich darüber. Doch als er sah, wie es dem Rest des Abrisshauses ergangen war, kam es ihm lächerlich vor, sich über ein Loch in einem Wollpullover aufzuregen. Es ist, dachte er, äußerst unwahrscheinlich, dass ich noch lebe. Eigentlich ist es so gut wie unmöglich. Wie kann ein Haus sterben und ein so winziges Ding wie ein Mensch am Leben bleiben?
Denn der Großteil des Abrisshauses war … nun … abgerissen , um es so zu sagen.
Schiefe Zwischenwände reckten sich hier und da aus seinen Trümmern wie große kaputte Zähne, und überall lagen die Glasscherben von Fenstern, als wären mit den Herbstblättern auch die Fenster des Hauses welk geworden. Frederic sah sich um. Aus dem Schutt ragte etwas wie ein Blatt Papier und er zog es heraus: Es war kein Blatt Papier. Es war ein Foto,
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