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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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rahmenlos, jetzt in der Mitte eingerissen, aber ohne Zweifel ein Foto. Es zeigte wieder den Jungen, wie er im Anzug an einem Tisch saß – aber nein. Er war ja gar kein Junge mehr. Auf dem Bild war er älter; sicher viel älter als Frederic; er trug sogar eine Krawatte. Ein alter Mann saß neben ihm am Tisch und lächelte in die Kamera. Er hatte eine Hand auf die Schulter des jungen Mannes gelegt, wohlwollend, zufrieden. Doch der angespannte Gesichtsausdruck war dem jungen Mann erhalten geblieben. Als müsste er ständig noch etwas zu Ende bringen, jemandem etwas recht machen, gehorchen. Und wieder kam Frederic das Gesicht bekannt vor.
    Gleichzeitig drängte sich ein anderer Gedanke in seinen Kopf, und er vergaß das Foto wieder. Der Gedanke war ein Name.
    Änna.
    Benommen stand Frederic auf und sah sich um. Nein, er befand sich nicht mehr in einem Haus. Er befand sich in einem Skelett aus einzelnen Mauern, aus denen die Balken ragten wie Knochen. Und dazwischen all diese Steine, all dieser Schutt … und dazwischen … dazwischen …
    »Änna?«, fragte er. Es gab keine Antwort. Sie war fort. Sie hatte ihn alleingelassen. Er begann, mit bloßen Händen den Schutt zu durchwühlen, Berg um Berg, panisch, gehetzt. Ihr Name hämmerte in seinem Kopf, aber er traute sich nicht, ihn noch einmal zu rufen. Er merkte, dass seine Hände bluteten, doch er spürte keinen Schmerz. Sie musste hier sein. Irgendwo. Und wenn er sie fände? Begraben unter dem Schutt? Still, leblos? Er begann zu wünschen, er fände nichts. Gar nichts. Nie. Es wäre zu schrecklich. Und dennoch grub er weiter. Und dennoch zerrte er weiter Steine und Balken beiseite, wühlte im Dreck wie ein wahnsinniger Hund. Es war sinnlos. Er fühlte sich wie eine Ameise, die es durch puren Zufall geschafft hatte, unter einer Dose Kaffeebohnen begraben zu werden und zu überleben – und die nun eine andere Ameise darin suchte. Kaffeebohnen? In was für unsinnigen Bildern dachte er? Seine Gedanken rasten im Kreis.
    Wenn Änna tot war, und sie war tot, dann hatte er sie umgebracht. Ohne ihn hätte sie das Abrisshaus nie betreten.
    Wenn Änna tot war, und sie war tot, dann war sie für die Träume gestorben.
    Wenn Änna tot war, und sie war tot, dann hätte er ihr gerne noch beigebracht, auf die Kastanie zu klettern, trotz der Kugel an ihrem Fuß.
    Und während er nach etwas suchte, das er nicht finden konnte, kamen die Dinge in verkehrter Reihenfolge zu ihm zurück: ihre feuchte, ängstliche Hand in der seinen. Das warme Atmen ihres Körpers, ganz nah, auf einer Isomatte. Sie, die auf einem Fahrrad mit ihm durch die Nachtstadt fuhr. Die mitten in einem Feld aus gelben Federblumen stand. Ein Zettel: Warum hast du mir die Träume zurückgegeben? Wenn du mich gar nicht leiden kannst? Das Kribbeln in ihm, als sie ihm etwas ins Ohr geflüstert hatte. Das Paket, Frederic …
    Ich habe dir trockene Kleider mitgebracht.
    Du hast vor meinem Bett gestanden, mitten in der Nacht. Aber du warst nur ein Traum.
    Und dann ihre kaum erkennbare Gestalt in der Tür zum Dachboden, er hörte sie wieder flüstern, aus dem Taschenlampenlicht heraus:
    Frederic. Ich bin es, Änna.
    Da war eine Berührung an seiner Schulter, zaghaft wie die eines geträumten Schmetterlings mit bunten Turnschuhen. Und die Worte aus seiner Erinnerung wiederholten sich:
    »Frederic«, flüsterten sie noch einmal. »Ich bin es, Änna.«
    Er drehte sich um. Und da stand sie. In zerrissenen Kleidern, dreckig, das dunkle Haar grau vor Staub, beinahe weiß. Er blinzelte. Zweifelte. Zögerte. War sie wirklich oder war sie seiner verzweifelten Fantasie entsprungen? Er stand auf, um es zu testen. Es war dazu notwendig, sie in die Arme zu nehmen.
    »Ich bin im Hof gelandet«, flüsterte sie. »Frag mich nicht, wie. Und als ich den rechten Fuß unter einem Haufen Holzsplitter herauszog, da sah ich, dass etwas Seltsames geschehen ist. Ich musste mich erst ganz aus dem Schutt herausarbeiten … wie eine Ameise …«
    »… zwischen Kaffeebohnen«, murmelte er.
    »Was? Jedenfalls ist etwas Komisches passiert. Die Kette … an meinem Fuß. Sie hatte nie ein Schloss. Jetzt hat sie eines: Sieh nur …«
    Aber Frederic sah nichts. Vor seinen Augen hing ein schmieriger Film aus Staub und irgendeiner Flüssigkeit, über deren Herkunft er in diesem Moment lieber nicht nachdenken wollte. Auch wenn keiner der Anwesenden es hörte, setzten im Hintergrund irgendwo die Geigen ein. Wahrscheinlich mal wieder Mozart. Frederic

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