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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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war es vermutlich besser so.
    Danach ging Bruhns über den Hof davon, wobei er leise mit sich selbst zu sprechen schien. Jemand schlich hinter ihm her. Jemand, den Hendrik kannte. Und er wunderte sich sehr. Es war die alte Dame aus dem zweiten Stock. Sie schien hinter dem Schuldirektor herzulaufen, damit sie hören konnte, was er da mit sich selbst Wichtiges zu besprechen hatte.
    »Es ist passiert«, sagte Kahlhorst. Lisa nickte.
    Sie hatten das Abrisshaus um halb elf erreicht. Halb elf war nicht rechtzeitig.
    Vor ihnen erhob sich ein Berg Trümmer in den Herbsthimmel. Eine Ansammlung Schaulustiger stand mit blutgierigen Augen herum. Unpassend heitere Musikfetzen drangen von St. Isaac herüber. Polizisten krochen über den Berg wie große Ameisen, die über einen Berg Kaffeebohnen unterwegs waren … ein seltsamer Vergleich, dachte Lisa.
    »Machen Sie den Brief auf«, sagte Kahlhorst.
    Sie hatten den Brief vorhin erst gefunden, als sie gemeinsam zusammen aus dem Haus gegangen waren. Er trug keinen Absender. Es sah aus, als hätte jemand ihn sehr eilig in irgendeinen Umschlag gestopft und in Lisas Briefkasten gesteckt. Jemand, der vor der Post da gewesen war. Hätte der Brief nicht ein wenig aus dem Briefkasten herausgeragt, hätte Lisa ihn sicherlich erst am Abend entdeckt. Jetzt riss sie den Umschlag mit zitternden Fingern auf.
    »He, Lisa«, las Lisa laut. »Ich habe meine Träume wieder. Frederic ist frei. Ich gehe zu ihm. Morgen mehr. Sag es bloß niemandem weiter, aber falls du uns suchst: Wir sind im …« Lisa stockte. »… im alten Abrisshaus neben St. Isaac.«
    Sie ließ den Brief fallen. Der Wind hob ihn auf und trug ihn mit sich davon.
    Kahlhorst legte seine Arme um Lisa und hielt sie fest, und sie lehnte sich an seinen weichen, beruhigenden Bauch. So standen sie und sahen dem Brief nach, wie er die Straße entlangflatterte; ein weißes Stück Papier, gänzlich unwichtig geworden. Sie hatten ihn zu spät gefunden. Zu spät.
    »Und«, fragte Lisa mit ganz farbloser Stimme, »und Hendrik? War er auch … dort …? Sind sie alle fort?«
    Kahlhorst antwortete nicht. »Ich werde St. Isaac verlassen«, sagte er leise. »Ich hätte es schon lange tun sollen.«
    An einem Mittwoch im Oktober wanderten zwei Gestalten in zerfetzten Kleidern die Straßen einer Stadt entlang, deren Name nichts zur Sache tut. Ihre Haut war grau von Staub und in ihren Haaren hatten sich Holzsplitter und Tapetenfetzen verfangen. Sie hätten Teile eines Films über den Krieg sein können oder auch Teile einer Geisterbahn. Stattdessen jedoch waren sie Teil einer Geschichte, die ihnen später niemand glauben würde. Irgendwo hinter ihnen heulten die Sirenen der Feuerwehr. Die beiden sahen sich an. Es gab nichts mehr zu tun für die Feuerwehr, und sie wussten es.
    »Bruhns wird denken, er wäre uns endgültig los«, sagte Frederic.
    »Meine Güte, aber wir sollten irgendjemanden anrufen«, meinte Änna. »Meine Eltern! Deinen Vater! Sonst glauben sie auch, wir wären unter den Trümmern begraben.«
    Sie fanden eine Telefonzelle, von der modernen Zeit irgendwo am Straßenrand vergessen, doch es war niemand da: Ännas Eltern nicht, Hendrik nicht. Nicht einmal Lisa ging ans Telefon.
    »Sie arbeiten alle«, sagte Änna. »Immerhin ist es mitten am Vormittag.«
    »Und Hendriks Handy arbeitet auch?«, fragte Frederic. »Das glaube ich nicht.«
    Er versuchte es vier Mal. Nach dem vierten Mal fraß das Telefon die Münzen, und Frederic trat ärgerlich gegen den Automaten. Irgendetwas stimmte nicht. Hendrik hätte an sein Handy gehen müssen.
    Er hatte versucht, das Paket zu finden … Wo war er? War ihm etwas zugestoßen?
    »Gehen wir«, sagte Frederic schroff.
    Ein Bus nahm sie ein Stück weit mit, und die Blicke der Leute allein waren es wert, Bus zu fahren. Änna und Frederic saßen stumm nebeneinander und sahen die Stadt an sich vorbeigleiten. Es war wie im Film, dachte Frederic, wenn der Regisseur schon weiß, was geschehen wird, und der Zuschauer noch an den Nägeln kaut. Fuhren sie zum letzten Mal mit dem Bus durch die Stadt? Würde der schwarze Schacht sie wieder ausspucken, wenn er sie einmal in seinen Fängen hatte? Er sah Änna von der Seite an und fragte sich, welche Art von Gedanken hinter ihrer dreckverschmierten Stirn arbeitete.
    Ihre Hand lag auf ihrem Knie, und er war versucht, sie zu berühren. Aber er tat es nicht. Und der Bus hielt. Und sie wanderten weiter, durch die letzten Straßen des Neubaugebiets mit den identischen

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