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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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ändern«, fügte Frederic hinzu. »Und dann wird es auch im Hof von St. Isaac Geschrei und Getobe geben, und dann werden die zukünftigen Professoren auf die Kastanie klettern, und die zukünftigen Bankdirektoren werden auf der Mauer balancieren.«
    Er merkte von innen, dass seine Augen begonnen hatten zu leuchten.
    »Was hast du vor?«, fragte Änna. »Willst du immer noch Bruhns’ Maschine zerstören?«
    »Ja«, sagte Frederic. »Aber nicht eigenhändig. Ich glaube nicht, dass wir etwas gegen Bruhns ausrichten können. Er ist zu schlau. Und zu stark.«
    »Wir nicht«, murmelte Änna. »Aber wer dann?«
    »Die Träume«, antwortete Frederic. »Wir müssen sie befreien. Die Träume, vor denen Bruhns Angst hat.«
    »Die, vor denen er …?«
    Frederic nickte. »Die guten Träume sind egal. Die, die er wirklich loswerden will, sind die Albträume unter der Erde. Sie können nicht durch den Schacht hinaus, weil sie sich dort unten ausgedehnt haben, nachdem Bruhns sie hineingepumpt hat. Und sie knäueln sich nicht zusammen, wenn man sie anbrüllt, wie die guten. Aber wenn man es doch irgendwie schaffen könnte, sie zu komprimieren, könnten sie aus dem Schacht klettern. Das ist es, wovor Bruhns Angst hat.« Er sah Änna an. »Und das ist es, was wir tun werden.«
    »Wie?«, fragte Änna.
    »Gute Frage«, sagte Frederic. »Es muss etwas geben, das sie komprimiert. Sonst würden sie nicht in die Maschine passen. Etwas da drin drückt sie für kurze Zeit zusammen. Wenn wir nur lange genug nachdenken, fällt es uns ein. Bestimmt.«
    »Dann denken wir nach«, sagte Änna, schlang die Arme um die angezogenen Knie, legte ihr Kinn darauf und richtete ihren Blick in die Ferne.
    »Du willst heute gar nicht zur Schule gehen? Ich meine, mich haben sie rausgeschmissen, aber dich …«
    »Ich bleibe hier«, sagte Änna fest entschlossen, »und helfe dir nachzudenken.«
    Statt nachzudenken, hätte jedoch lieber einer von ihnen die leere Fleischklopsdose vom Fensterbrett retten sollen. So entdeckte ein gelangweilter, arbeitsloser Windstoß die Dose, hob sie auf, warf sie durch die Luft, spielte ein wenig Fußball mit ihr und ließ sie dann scheppernd unten vor dem Haus aufschlagen. Und jemand im Schulhof drüben blickte auf. Jemand, der bis jetzt allein neben der Kastanie gestanden und ebenfalls nachgedacht hatte. Jemand mit bissigen Fingern und kalten Augen. Ehe Frederic oder Änna den scharfen Blick dieser Augen bemerkten, bekam der Blick Beine und lief mit eiligen Schritten hinein nach St. Isaac, die Treppen hinauf, einen leeren, stillen Flur entlang, in einen Raum mit einem Parmafaulchen, und schließlich ballten sich die bissigen Finger zusammen und klopften zweimal kurz an die Tür: ein Zeichen.
    Und jemand öffnete diese Tür.
    Hinter ihm stand ein offener Koffer voller kleiner, knetgummiartiger Päckchen. Gerade hatte er das letzte Knetgummistück aus einem Paket genommen und dazugelegt, ein Lächeln auf den Lippen, das zwischen Zufriedenheit und Nervosität hin und her schwankte.
    »Sie sind im Abrisshaus!«, rief Josephine außer Atem. »Ich habe sie gesehen, Herr Direktor! Ich habe sie im Fenster sitzen sehen! Mit einem braunen Postpaket zwischen sich! Suchen Sie nicht ein braunes Postpaket? Eines wie die … dort hinter Ihnen?«
    Bruhns nickte.
    Das letzte der Pakete im Stapel hinter ihm war an diesem Morgen eingetroffen.
    »Im Abrisshaus?« Er schien zu zögern. »Ich habe mir mal geschworen, dieses Haus nie wieder zu betreten. Nicht bis es von selbst eingestürzt ist.« Er seufzte. »Aber vielleicht ist es Zeit, ein wenig nachzuhelfen. Es war sicher ein braunes Paket, das die beiden dort hatten?«
    »Ganz sicher, Herr Direktor.«
    »Dann komm mit.«
    Bruhns schloss die Tür zum Rektorat sorgfältig ab. Nach der Pause stand eine jener wundervollen Konferenzen auf dem Terminplan.
    Für die Schüler hatte Bruhns wie jedes Jahr im Oktober den traditionellen Tag des Musizierens angesetzt, sodass nur die Musiklehrer in der Konferenz fehlen würden. Tag des Musizierens, dachte er und lächelte, während er den Schlüssel einsteckte. Es war so ein schönes Wort. Sie würden auf ihren lieblichen Geigen geigen und auf ihren Flöten flöten, und währenddessen würde er in der Konferenz eine seiner schönen, fremdwortgespickten Reden halten. Und danach, während in St. Isaac weiter süße Töne durch die Flure klangen, alle korrekt, zum Glück aber farblos – danach hatte Bruhns einen kleinen Ausflug vor, gemeinsam mit den

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