Nacht der gefangenen Träume
verbarg seine Nase in Ännas nun beinahe weißem Haar, atmete Staub ein und nieste den Augenblick der Geigenmusik fort.
»Wir sollten los«, sagte er und räusperte sich. »Jetzt.«
»Wohin?«, flüsterte Änna.
»Zur Fabrik«, sagte er. »Die Träume haben ihre letzte Nacht erlebt. Dies ist ihr letzter Tag. Bruhns wird ihr Gefängnis in die Luft jagen.«
Er ließ sie los und sie betrachtete ihn. »Du blutest, dort an der Schulter. Wir sollten irgendetwas zum Verbin…«
Frederic wischte sich das Blut vom Arm. »Ich habe jetzt keine Zeit zu bluten. Komm!«
»Aber … Frederic! Warte! Was … hast du vor?«
Er drehte sich zu ihr um.
»Wir müssen die Albträume zu Hilfe holen«, erwiderte er ernst. »Es ist einer dabei, der Bruhns Angst macht. Wir müssen ihn dazu bringen, sich klein genug zu machen, um aus dem Schacht zu kriechen. Wir müssen … zu ihnen hinab, in den Keller der Fabrik.«
Änna schüttelte das Weißhaar, und er dachte, sie würde gleich sagen: »Du spinnst, Frederic. Vergiss es.«
Aber sie sagte gar nichts. Ihre dunklen Augen blitzten. Und dann nickte sie.
Auf der Straße lagen zwischen versprengten Steinen drei rostige und sehr verbeulte Mülltonnen. Als Frederic an ihnen vorbeiging, glaubte er ein Wispern aus Richtung der Tonnen zu vernehmen. Es hörte sich an wie »O, maxima calamitaus! Ab est pretiosum Haus!«
Bestimmt nur Einbildung.
12. Kapitel
Lange nichts Schönes mehr gesehen
»Jetzt kommt das Kapitel, das ich nicht so mag«, sagt Frederic. »Vielleicht gehe ich ein bisschen spazieren, während du es schreibst.«
»Nichts da. Du bleibst schön hier und hilfst mir. Woher soll ich denn wissen, wie alles genau gewesen ist? Ich war doch bei der wichtigsten Sache gar nicht dabei!«
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Nein, kein bisschen.«
»Und überhaupt kommen außer dieser einen Sache auch noch andere Sachen vor. Viel wichtigere Sachen! All diese Albträume und der endlose dunkle Flur in dem Haus und das Zimmer mit dem Schreibtisch und wie sie uns auf dem Schulhof eingekreist hatten …«
»Aber zuerst gelangen Lisa und Kahlhorst zu einem verkehrten Schluss.«
»Ja. Und Hendrik kapiert immer noch nichts. Und jemand belauscht Bruhns’ Selbstgespräche.«
»Ich sehe, wir sind schon mitten im nächsten Kapitel …«
Niemand hatte sein Klopfen gehört. Vermutlich wurde der Gang, in dem das Klassenzimmer lag, nicht mehr benutzt.
Hendrik saß an einem der Schülertische neben dem Fenster, bog ab und zu die Lamellen des Rollos auseinander, um hinunter in den Hof zu sehen, und ließ die Geräusche in St. Isaac an sich vorbeiziehen.
Gegen 7.50 Uhr war die kommende Generation unter ihm durch die Gänge geströmt. Zu diesem Zeitpunkt hatte er noch versucht zu rufen. Doch die kommende Generation hatte ihre Ohren vor ihm verschlossen. Stattdessen hatte sie begonnen, Instrumente zu stimmen. Und dann übertönte Beethoven Hendriks Verzweiflung, Bach floss gleichgültig die Flure entlang und Mozart schien ihn auszulachen. Aus allen Poren des Gebäudes drangen Töne, exakte, reine und durch und durch langweilige Töne. Musik ohne Seele.
Als gegen 9.30 Uhr die große Pause begann, war nicht nur Hendrik erleichtert, sondern mit ihm vermutlich auch Beethoven, Bach und Mozart.
Gegen 9.50 Uhr begannen die drei Komponisten wieder zu leiden.
Gegen 10.15 Uhr stürzte draußen ein Haus ein.
Wie bitte? Hendrik sprang auf und versuchte, mehr zu erkennen. Das Abrisshaus neben dem Schulhof! Dort, wo eben noch das Abrisshaus gestanden hatte, lag jetzt ein Haufen Trümmer, aus dem nur noch einzelne Stücke von Wänden ragten. Aber war da nicht ein Knall gewesen, vorher? Der Knall einer Explosion? Hendrik wandte sich ab und begann, unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen. Etwas stimmte nicht. Das Haus war nicht einfach so eingestürzt. Es hatte etwas zu tun mit – mit allem. Mit Frederic. Mit dem Paket. Mit Direktor Bruhns.
Eine halbe Stunde später hörte er Sirenen. Ratlose Feuerwehrmänner standen ein Weilchen vor den Resten des Hauses herum. Sie räumten ein paar Trümmer und drei altmodische Mülltonnen von der Straße, dann stiegen sie wieder in ihre Autos und wurden durch ratlose Polizisten ersetzt.
Hendrik sah Bruhns mit den Polizisten sprechen. Auch er hob die Hände: ratlos. Hendrik konnte die Zeichen dieser Hände lesen, ohne Bruhns’ Worte zu hören: Nein, er könne sich nicht erklären, wieso das Haus … aber es war ja alt gewesen, nicht wahr … und überhaupt
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