Nacht der gefangenen Träume
Familien, die nichts von gefangenen Albträumen und schwarzen Schächten ahnten; wanderten schlaglöcherige Straßen zwischen hohen, gewerbegebieterischen Mauern entlang, wanderten an Autohausschildern und toten Tankstellen vorbei, an Schrottplatzgeruch und Metallsammelstellen – wanderten wortlos, ohne stehen zu bleiben. Wenn sie stehen blieben, das wussten sie beide, würde der Mut sie verlassen.
Schließlich kamen sie ans Ende jenes letzten, unbefestigten Weges, wo sich die Wendespuren von Rädern tief in den sandigen Untergrund gegraben hatten: die Räder von Bruhns’ Maschine; die Räder von Lisas Auto. In ihren Vertiefungen hatte sich das Regenwasser der vergangenen Nacht gesammelt und spiegelte einen rein gewaschenen, blauen Oktoberhimmel. Einen Mittwochhimmel.
Es geschehen wohl doch nicht alle wichtigen Dinge an Montagen.
Frederic betrachtete die Fahrräder, die Bruhns mit seiner Maschine zerquetscht hatte. Sie lagen noch immer reglos wie tote Tiere. Er dachte an ein anderes Fahrrad, das vor acht Jahren zerquetscht worden war. Und plötzlich wurde er wütend. Er ging hinüber und gab dem Untier aus toten Rädern einen Tritt. Zum ersten Mal wurde er wütend auf seine Mutter. Hätte sie nicht besser aufpassen können? Was hatte sie sich dabei gedacht, sich überfahren zu lassen und Frederic und Hendrik einfach im Stich zu lassen?
Waswaswaswaswaswas?
»Frederic …«, hörte er Änna neben sich sagen. Er merkte, dass er noch immer auf den Resten der wehrlosen Fahrräder herumtrampelte. Der Fuß, mit dem er zugetreten hatte, schmerzte.
»Das … musste sein«, sagte er leise.
Änna lächelte. »Komm«, sagte sie.
Dann stießen sie das eiserne Tor auf und schlüpften hindurch.
Das braune Gras wiegte sich wispernd im Wind, wie es das in dieser ganzen irrsinnigen Geschichte getan hatte, und wartete auf sie. Vor der Fabrik quoll eine Nebelwolke aus dem Boden wie am allerersten Tag, als Frederic hierhergekommen war. Sie gingen genau auf die Wolke zu. Daraus kamen die raunenden Stimmen und mit ihnen jenes Gefühl, das einem unbehaglich den Rücken hinunterlief. Die Albträume warteten auf sie, ohne zu wissen, dass sie kamen.
Vor der Wolke blieb Frederic noch einmal stehen und sah Änna an.
»Was?«, flüsterte sie.
»Nichts«, antwortete er. »Nur dies ist vielleicht das letzte Mal, dass ich dich sehe. Unten im Schacht wird es zu dunkel sein. Wenn etwas geschieht, will ich mich erinnern.«
Änna legte ihren Finger an seine Lippen. Dann nahm sie seine Hand und zog ihn mit sich in die Nebelwolke hinein.
Zuerst sah Frederic nichts. Der Nebel, der kein Nebel war, drang ihm rauchig in die Lunge und brachte ihn zum Husten. Es war wie damals: Er verlor die Orientierung, wusste nicht mehr, wo die Fabrikhalle war und wo das eiserne Tor … Doch diesmal spürte er Ännas Hand in der seinen. Und diesmal wollte er nicht vor dem Schacht fliehen. Diesmal waren sie gekommen, um hineinzuklettern.
»Dort!«, hörte er Ännas Stimme sagen, seltsam gedämpft vom Rauch, wie durch Watte. Gleich darauf trat sein rechter Fuß ins Leere. Er taumelte zurück, ließ sich auf die Knie nieder, spürte, dass Änna das Gleiche tat … und sie tasteten gemeinsam den Rand des Schachts ab – nach einer Leiter, einem Seil … irgendetwas, das man benutzen konnte, um in den Keller hinabzusteigen. Es gab nichts.
»Wir müssen springen«, sagte Frederic heiser.
Sie standen auf, verharrten am Rand des Schachts – Frederic wollte bis drei zählen, doch ehe er damit beginnen konnte, zog Ännas Hand ihn wieder mit sich. Er machte einen Schritt nach vorn, hinein ins Nichts – und fiel.
Und fiel
und fiel
und fiel,
tiefer
und tiefer
und tiefer –
und landete in eisigem Wasser. Er ging unter, kam hoch, schnappte nach Luft – er hatte Ännas Hand verloren.
»Änna?«, rief er.
»Hier!«, keuchte sie. »Neben dir! Ich glaube, wir sind … wir sind im Albtraum von jemandem gelandet, der nicht schwimmen kann …«
Ihre Stimme verschwand gurgelnd in den Fluten. Sie hatte recht: Dies war ein Albtraum vom Ertrinken. Die Kette!, dachte er. Die Eisenkugel an Ännas Fuß! Sie würde Änna hinabziehen! Er griff im Dunkeln nach ihr, fand einen Arm, hielt ihn fest und spürte, wie das kalte Wasser auch ihn in die Tiefe zog. Er versuchte, gegen den Sog anzuschwimmen, doch es war unmöglich, solange er Änna weiter festhielt. Er brauchte beide Arme … er bekam keine Luft mehr … er würde sie loslassen müssen … Nein! Das
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