Nacht der Geister
ihr Reisebüro an und bekam einen LastMinuteFlug von O’Hare aus.
Als wir uns am Friedhofstor trafen, war es fast Mittag.
»Ich nehme nicht an, dass dies bis Mitternacht warten kann?«, fragte sie, als wir uns zwischen mehreren Spaziergängern mit Hunden hindurchschlängelten.
»Hey, du wirst besser.«
»Worin?«
»Darin, zu reden, ohne die Lippen zu bewegen.«
Ein winziges Lächeln. »Ich bin eine Frau mit vielen Talenten.
Ist heute irgendwas Besonderes los, oder ist es hier immer so voll?«
»Ich glaube, der Friedhof hier dient gleichzeitig als öffentlicher Park.« Ich sah mich auf dem baumbestandenen Gelände um; überall waren Leute unterwegs, um die Frühlingssonne zu genießen. »Kannst du es auch am Tag machen? Die Sache duldet keinen Aufschub.«
»Verdammt«, seufzte Jaime.
32
M itten am Tag eine Séance auf einem höchst belebten Friedhof abzuhalten ich bin sicher, das steht ganz oben auf der Liste der Dinge, die man als Nekromant lieber bleibenlässt.
Wir hatten uns darauf geeinigt, dass Jaime so tun würde, als meditiere sie. Dazu konnte sie immerhin in der Nähe von Simmons’ Grab im Schneidersitz auf dem Boden sitzen und die Augen schließen, ohne allzu viel Aufmerksamkeit zu erregen. Trotzdem musste sie ihre Beschwörung auch so mehrmals unterbrechen, weil sie von neugierigen Spaziergängern gefragt wurde, ob sie mit den Toten zu sprechen versuchte. Ich stand währenddessen Schmiere, um ihr Bescheid zu sagen, wenn Simmons auftauchte.
Es dauerte fast zwei Stunden, bis Suzanne Simmons erschien, und sie brauchte mindestens zehn Minuten, um sich vollständig zu materialisieren. Ich erkannte sie sofort. Schließlich hatte ich sie in der Vision gesehen, die die Parzen mir geschickt hatten, und ihr Gesicht hätte ich nie vergessen können. Sie steckte noch in der Krankenhauskleidung des Gefängnisses; die Bienenkorbfrisur war verschwunden, und das blonde Haar hing ihr schlaff und ungewaschen um die Schultern, als hätte sich niemand mit solchen Details beschäftigt, als sie im Sterben lag. Sie war barfuß. Das war das Erste, was sie bemerkte ihre Füße. Sie starrte auf sie hinunter, hob den einen, dann den anderen an und krümmte die Zehen. Dann lächelte sie, hob mit geschlossenen Augen den Kopf und holte tief Atem.
Jaime drehte sich um und wollte etwas sagen, aber ich bedeutete ihr mit einer Geste, noch zu warten.
Simmons öffnete die Augen und sah sich um. Ihr Blick fiel auf ihren Grabstein. Ein Lidschlag. Sie legte den Kopf zur Seite und las die Inschrift. Ein winziges Nicken, als sei die Bestä
tigung, dass sie tot war, weder unerwartet noch sonderlich beunruhigend.
Sie drehte sich um, und ich tat einen Schritt zur Seite, um mich aus ihrem Blickfeld zu halten. Ihr Blick glitt über Jaime und den Friedhof, von Spaziergänger zu Spaziergänger; sie runzelte ganz leicht die Stirn, als sie eine Welt musterte, die ihr vertraut und zugleich fremd war.
Zwei Teenager kamen auf ihren Rollerblades den Pfad entlang geschossen, das Mädchen mit dem Handy am Ohr, der Junge mit halb geschlossenen Augen, vollkommen gebannt von dem Hämmern, das aus seinem Kopfhörer drang. Als sie näher kamen, streckte Simmons die Hand aus. Das Mädchen glitt geradewegs durch ihre Finger hindurch. Simmons nickte, als sei auch dies nicht weiter überraschend.
»Willkommen zurück, Suzanne«, sagte ich.
Sie fuhr herum, die Hände erhoben, als wollte sie einen Schlag abwehren. Ich lehnte mich an einen Grabstein und schob die Hände in die Taschen.
»Bist du ein Geist?«, fragte sie.
Ich griff nach unten und pflückte aus dem Blumenstrauß auf dem Grab eine Blume, die ich zuvor heraufbeschworen hatte.
Ich hob sie hoch.
»Sieht es so aus?«
»Also wie ?«
»Nekromantie«, sagte ich. »Hast du davon gehört?«
Eine Pause; ein langsames Kopfschütteln. »Nein.«
»Nekromanten können Kontakt mit den Toten aufnehmen.«
»Du bist also Nekromantin?«
»Nee.« Ich zeigte auf Jaime. »Sie ist die Nekromantin. Ich bin einfach nur die Auftraggeberin.«
Simmons studierte Jaime und tat dann einen Schritt auf sie zu. Jaime gab sich Mühe, ihren Widerwillen zu verbergen, aber er war dennoch zu erkennen. Simmons legte den Kopf schief und lächelte, ein winziges MonaLisaLächeln.
»Deine Freundin mag mich wohl nicht besonders.«
»Angestellte, nicht Freundin. Wie gesagt, die Auftraggeberin bin ich. Ich habe mich an sie gewandt, um dich freizugeben.«
»Frei . . . ?« Ihr Kopf fuhr hoch.
Ich lächelte. »Das Wort
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