Nacht der Geister
reichlich Zeit. Aber diese Artikel aus dem Netz hatten mir eines schmerzlich klargemacht: Dieser Durchschnittswert bedeutete nicht, dass sie nicht gerade jetzt irgendwo da draußen ihre nächste Partnerin gefunden hatte.
Als ich das Gefängnis erreichte, war es Morgen. Ich nahm den Besuchereingang, schwänzte aber die Sicherheitskontrolle. Ich glitt durch den Metalldetektor, an den beiden Frauen ganz vorn in der Warteschlange vorbei. Beide waren älter als ich, eine Ende vierzig, eine jenseits der fünfzig, und die Mütter von Gefängnisinsassen, das sah ich ihnen an.
Die Ältere stand mit erhobenem Kinn, trotzig, überzeugt, dass jemand einen furchtbaren Fehler gemacht hatte, dass ihr Kind unschuldig war und jemand anderes für diese juristische Farce bezahlen würde. Die Jüngere hielt den Kopf gesenkt, antwortete mit einem höflichen Murmeln auf die Fragen der Wachleute, erwiderte aber ihre Blicke nicht. Schuldgefühle
sie war eine Mutter, die sich selbst die Schuld dafür gab, dass ihr Kind im Gefängnis saß, die nicht wusste, was sie falsch gemacht hatte, aber überzeugt war, dass es irgendetwas gewesen sein musste.
Ich betrat das Wartezimmer, eine fensterlose, graue Höhle, die niemandem die Illusion vermittelte, willkommen zu sein.
Schäbige Stühle mit roten Kunststoffpolstern sprenkelten den Raum wie eine Masernepidemie; sie sahen aus wie eine Spende, die irgendeine wohltätige Einrichtung dankend abgelehnt hatte, und auch die Besucher rührten sie nicht an.
Ich kam an Ehegatten, Liebhabern, Eltern und Freunden vorbei, die darauf warteten, dass man sie einließ. In der Ecke bei der Kabine des Wachmanns stand eine dicht gedrängte Gruppe von Leuten im Collegealter, größtenteils Männer; ihre möglichst auffällig getragenen Abzeichen kennzeichneten sie als Exkursion von einer Polizeischule. Ich ging an den Möchtegernpolizisten vorbei, durch die Tür, die ihnen noch versperrt war, und fand mich in einem einstöckigen Zellenblock wieder. Die ersten Zellen, an denen ich vorbeikam, waren leer, obwohl sie offenbar bewohnt wurden ich sah eine über einer Stuhllehne hängende Bluse und ein Taschenbuch, das offen auf einem Bett lag. Die Bewohnerinnen mussten draußen sein und irgendetwas tun Arbeitsdienst oder Therapie oder was auch immer. Ich hoffte sehr, Sullivan irgendwo zu sehen, schon weil ich ihr nicht gönnte, jemals wieder ein Leben jenseits von Gittern führen zu dürfen.
Nicht einmal, um unter einer heißen texanischen Sonne Steine zu klopfen.
Hie und da sah ich tatsächlich jemanden in einer Zelle vielleicht bekam die Frau Besuch oder musste zur Strafe drinnen bleiben. Ich hatte das Ende des Blocks fast erreicht, als ich hinter mir ein plötzliches Kichern hörte. Ich drehte mich um und entdeckte eine kleine Gestalt, die sich zwischen den Stäben einer Zelle hindurchquetschte. Sie sah aus wie ein kleiner Junge.
Das Kind rannte den Gang entlang davon. Dann blieb es stehen und sah in die Zellen zu beiden Seiten hinein. Es war ein dunkelhaariger, dunkelhäutiger, kleiner Junge in Kleidern, die auf eine Art geflickt und wieder geflickt worden waren, wie man es seit der Massenproduktion billiger Kleidung kaum noch sah. Sein Hemd war von einem zu Grau verwaschenen Blau und mehrere Größen zu groß, und Flicken bedeckten die Ellenbogen ebenso wie die Knie der zu kurzen Hosen, die auf Wadenhöhe endeten. Er war barfuß.
Ich ging leise näher heran und blieb ein paar Schritte von ihm entfernt stehen, um ihn nicht zu erschrecken. Und ja, ich war mir fast sicher, dass ich ihn hätte erschrecken können. Er musste ein Geist sein. Dabei . . . nun ja, es ergab keinen Sinn.
Die Kleidung des Jungen war seit einem Jahrhundert aus der Mode, aber die höheren Mächte sind nicht so grausam, dass sie eine Seele die Ewigkeit im Körper eines Kindes verbringen lie
ßen. Junge Geister werden erwachsen, bevor der Alterungsprozess stockt. Und wenn die Parzen Eltern für kindliche Geister suchten, dann wählten sie sorgfältig aus unter denjenigen, die sich im Leben vergeblich nach Kindern gesehnt hatten, oder denjenigen, die gern noch mehr gehabt hätten, bevor die Natur ihnen die Möglichkeit dazu nahm. Kindliche Geister sind glücklicherweise selten genug, so dass die Parzen wählerisch sein können, und sie würden kaum jemanden auswählen, der ein Kind in einem Gefängnis herumlaufen ließ.
Ich versuchte es mit einem diskreten Husten, wie ich es Jaime versprochen hatte. Der Junge bemerkte mich nicht.
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