Nacht der Geister
Gegrüßet seist du «
»Hallo? Alles in Ordnung, ich will dir nichts tun.«
Die einzige Antwort war ein leises Klacken, bei dem mir die Murmel in meiner Tasche einfiel.
»Gegrüßet seist du, Maria«, flüsterte die Stimme. »Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade.«
Rosenkranzperlen. Das Klicken, mit dem jemand die Perlen eines Rosenkranzes abzählte. In der Ferne knallte eine Tür.
Die Stimme keuchte und brach mitten im Wort ab. Schritte hallten im Gang die schweren Schritte gestiefelter Füße, und sie kamen näher. Die Stimme stieß ein leises Wimmern aus, und dann erfüllte ein neues Geräusch den Raum, ein stetes Klopfen, das leiser war als die Schritte und immer schneller wurde. Das ängstliche Hämmern eines Herzens.
»Heilige Maria, Mutter Gottes «
Das Gebet war kaum lauter als ihr Atmen, kaum mehr als ein Flüstern.
Die Schritte hielten vor der Zellentür inne. Ein Rasseln von Schlüsseln. Ein Wimmern, das klang, als stiege es von dem Boden vor meinen Füßen auf. Ein Schlüssel kreischte im Schloss.
»Nein, nein, nein, nein!«
Die Türangeln quietschten, und ich hörte, wie eine Tür aufging, aber die Tür vor mir blieb geschlossen. Die Frau stieß einen Schrei aus, bei dem ich vor Schreck fast an die Decke ging.
Ich fuhr herum, aber ich war immer noch allein. Zu meinen Füßen hörte ich das panische Scharren, mit dem jemand über den Fußboden kroch.
»Gegrüßet seist du, Maria, voll der «
Ein Lachen, das ihr Gebet übertönte. Die Tür knallte zu. Die Frau schrie. Dann hallte ein Schlag durch den Raum, so laut, dass ich taumelte, als habe er mir gegolten. Wieder ein Schrei ein entsetzlicher Schrei voller Wut und Angst.
Und dann war alles still.
Ich sah mich um und wartete auf das nächste geisterhafte Geräusch. Aber ich hörte nur das leise Kratzen winziger Klauen
eine Ratte in der Wand.
Langsam ging ich hinaus in den Gang. Der Junge stand direkt vor der Zelle. Ich fuhr zusammen und stieß einen unwillkürlichen Fluch aus. Er winkte mir zu und rannte weiter. Ich zögerte und versuchte mich zu orientieren, dann folgte ich ihm.
15
E rführte mich in einen weiteren Raum, indem es nach Moder und abgestandener Luft roch. Hier hatte er zwischen zwei Kistenstapeln seine Schätze versteckt eine Handvoll Murmeln, farbige Steine, Federn, eine himmelblaue Blechtasse und ein handgenähtes Stofftier, das entweder ein Hund oder ein Elefant war.
»Ich glaube, da fehlt was«, sagte ich, während ich neben dem Haufen in die Hocke ging und die grüne Murmel aus der Tasche zog. Der Junge stieß ein wortloses Quieken aus und legte die Arme um mich. Nach einem Augenblick der Überraschung nahm ich ihn ebenfalls in die Arme.
»Wie heißt du?«, fragte ich.
Er sah mich nur an, lächelte und nickte.
Ich zeigte auf mich. »Ich bin Eve. Und du bist . . . ?«
Das Lächeln wurde noch ein paar Watt strahlender, aber auch diesmal antwortete er nur mit einem Nicken.
»Ich helfe dir, hier rauszukommen. Ich bringe dich an einen schöneren Ort. Würde dir das gefallen?«
Er nickte, immer noch lächelnd. Wenn ich ihn gefragt hätte, ob er mit mir zum Hundeschlittenfahren nach Sibirien kommen wollte, hätte er ebenso reagiert ohne die geringste Ahnung, wovon ich redete, aber vollkommen einverstanden mit allem, das ich vorschlug.
»Wir gehen bald, Liebes«, versicherte ich. »Ich muss vorher nur etwas erledigen. Jemanden finden.« Ich machte eine Pause.
»Vielleicht kannst du helfen?«
Er nickte heftig, und dieses Mal wusste ich, dass er mich verstanden hatte. Aber als ich Amanda Sullivan beschrieb, wurden seine Augen dunkel vor Enttäuschung. Jemanden zu finden war etwas, das er verstand, eine verbale Beschreibung zu verstehen war zu viel verlangt.
Ich dachte an den Zeitungsartikel, den ich gelesen hatte, und versuchte, ihn zu materialisieren. Nichts geschah. Aber ich ließ mich nicht entmutigen. Meine Kräfte mochten vielleicht auf dieser Seite schwach sein, aber in meiner eigenen Dimension war ich stark. Ich teleportierte mich in die Geisterwelt, beschwor den Artikel mit dem Foto herauf und kam damit zurück.
»Das ist die Frau, die ich suche.«
Er stieß einen kleinen Schrei aus und vergrub das Gesicht an meiner Schulter. Ich fühlte, wie sein kleiner, dünner Körper zitterte. Er wusste oder spürte , was Sullivan getan hatte.
Minutenlang hielt ich ihn im Arm und murmelte tröstende Worte. Als er endlich zu zittern aufhörte, schob ich das Foto in die Tasche.
»Vergiss sie«, sagte ich.
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