Nacht der Hexen
vernünftig«, sagte Sandford; er setzte sich aufrecht hin, machte aber keine Anstalten aufzustehen. »Sie verlangen, dass ich mein Leben für eine Hexe aufs Spiel setze.«
»Ich verlange, dass Sie meiner Tochter helfen.«
»Wie lang kennen wir uns jetzt schon? Sie haben mich gebeten, diesen Fall Ihnen zu Gefallen anzunehmen, und ich hab’s getan. Jetzt ist alles beim Teufel, aber ich bin immer noch da, oder vielleicht nicht?«
»Sie werden für diese Loyalität auch belohnt werden, Gabriel. Holen Sie Savannah aus diesem Haus raus, und Sie können mit einem sechsstelligen Bonus rechnen.«
Sandford wischte sich eine blutige Hand an seinem Hemd ab. Dann sah er zu Nast auf. »Einen Bonus und einen Vizepräsidentenposten. Mit einem Büro im zwölften Stock.«
»Im zehnten Stock … und ich werde sogar vergessen, wer auf die Hexe hätte aufpassen sollen, als sie verschwunden ist.« Sandford rappelte sich auf und nickte. »Abgemacht.«
»Ich will, dass sie unversehrt bleibt. Nicht ein Kratzer. Verstanden?«
Sandford nickte wieder und machte sich auf in Richtung Haustür. Ich wartete, bis er außer Sichtweite war; dann zog ich mich unter die Bäume zurück und hastete zur anderen Seite des Hauses.
Vom Umgang mit Respektspersonen
D ie Hintertür stand offen. Ich rannte durch den Garten und ins Haus hinein.
Das Erste, was ich dort sah, war die Leiche der Nekromantin Shaw. Sie lag am Fuß einer schmalen Treppe. Ich sah mich hastig um, bevor ich weiter vorstieß. Über mir hörte ich Schritte – eine Person, vielleicht auch zwei. Ich trat vorsichtig näher an die Leiche heran. Nach dem Winkel zu urteilen, in dem ihr Hals abgeknickt war, musste ich annehmen, dass sie die Treppe hinuntergefallen war und sich das Genick gebrochen hatte.
Was war hier eigentlich passiert? Ich war doch nur etwa eine Stunde lang fort gewesen. Jetzt war Shaw tot, Nast stand draußen im Freien herum, und Sandford suchte höchst widerwillig nach Savannah. Nach dem, was Sandford gesagt hatte, sah es so aus, als wäre Savannah die Ursache des Ganzen. Aber inwiefern? In jedem Fall musste ich sie finden, bevor jemand anderes es tat.
Als ich mich an Shaw vorbeischob, ließ ihr Gesichtsausdruck mich einen Moment lang innehalten. Ihre Augen waren so weit aufgerissen, dass man rings um die Iris Weiß sah. Die Lippen waren nach hinten gezogen und gaben die Zähne frei. Und der Gesichtsausdruck – blankes Entsetzen. Vielleichtwar ihr in dem Augenblick, in dem sie starb, die Vorstellung durch den Kopf geschossen, ein anderer Nekromant könnte ihre Seele aus der Ewigkeit zurückzerren und wieder in ihre zerschmetterte Leiche stecken. Ausgleichende Gerechtigkeit, wenn man sich’s so überlegt.
Ich stieg über sie hinweg und begann die Treppe hinaufzusteigen. Sie hatte Wände auf beiden Seiten und war so schmal, dass es ein Wunder war, dass Shaw überhaupt bis nach unten gefallen und nicht auf halber Strecke stecken geblieben war. Es musste eine Hintertreppe sein, die wahrscheinlich von der Küche heraufkam.
Die Treppe endete an einer offenen Tür im zweiten Stock. Als ich weit genug nach oben gekommen war, um hindurchzuspähen, blieb ich stehen und sah mich um. Die Tür war am Ende des oberen Flurs. Am anderen Ende lag die Haupttreppe, die ich zuvor genommen hatte. Von den sechs Zimmertüren stand eine weit offen, zwei waren angelehnt, und drei waren geschlossen.
»Savannah?«, rief jemand.
Ich fuhr zusammen; dann erkannte ich die Stimme. Sandford.
»Savannah … komm schon raus, Liebling. Niemand tut dir irgendwas. Du kannst ruhig rauskommen. Dein Dad ist nicht böse auf dich.«
Yeah,
das
war ganz sicher das Hauptproblem. Was glaubte er eigentlich, wie alt Savannah war – fünf? Ein Kleinkind, das in der Ecke kauerte, weil es Angst vor einer Tracht Prügel hatte?
Ich lauschte auf weitere Geräusche, hörte aber nichts. Von Sandfords Stimme und dem Knarren seiner Schritte abgesehen war das Haus still.
Als ich mich vorsichtig in den Flur hinausschob, knisterte etwas über meinem Kopf. Sandfords Schuhe quietschten, als er innehielt, um zu horchen. Schritte über mir. Ich schloss kurz die Augen, um besser hören zu können, und schüttelte dann den Kopf. Sie waren zu schwer, als dass es Savannah hätte sein können. Ich nahm an, dass Anton oder eine der Hexen auf dem Dachboden nach Savannah suchte.
Sandfords Schatten fiel aus einer offenen Tür am Ende des Flurs.
Ich schlüpfte in ein anderes Zimmer und stellte mich hinter die Tür, bis er
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