Nacht der Hexen
inzwischen nicht mehr die Mühe, den Gesichtern Namen zuzuordnen.
»Ja?«, sagte ich durch die offene Fliegengittertür.
Der Ältere der beiden Beamten trat vor, versuchte aber weder die Tür zu öffnen, noch verlangte er eingelassen zu werden.Vielleicht hatte er gern Publikum. In diesem Fall war es sein Pech, dass der größte Teil der Schaulustigen und sämtliche Fernsehteams verschwunden waren. Allerdings, die beiden Teenager mit dem Camcorder waren wieder da.
»Der Gemeinderat hat uns gebeten, diese beiden Herrschaften bis zu Ihrer Tür zu begleiten.«
Er trat zurück. Stattdessen erschienen ein Mann und eine Frau, die ich beide nur flüchtig kannte.
»Stadträte Bennett und Phillips«, sagte der Mann, ohne zu erklären, wer von ihnen wer war. »Wir möchten Ihnen mitteilen –« Er machte eine Pause, räusperte sich und hob dann die Stimme, damit die unten auf dem Rasen verstreuten Leute auch etwas davon hatten.
»Wir möchten Sie über einen Vorschlag des Gemeinderats von East Falls in Kenntnis setzen.« Wieder eine Pause, diesmal der Wirkung wegen. »Der Gemeinderat hat sich großzügigerweise bereit erklärt, dieses Grundstück zum Marktpreis zu enteignen.«
»Ent… haben Sie gerade gesagt
enteignen?«
»Marktpreis«, sagte er, während seine Stimme sich noch eine Stufe hob. Er sah sich um, um sich zu vergewissern, dass die Aufmerksamkeit seines Publikums ihm sicher war. »Zuzüglich Umzugskosten. Darüber hinaus werden wir den Wert Ihres Hauses vor den eventuell entstandenen Schäden schätzen.«
»Warum teeren und federn Sie mich nicht einfach?«
»Uns liegt eine Petition vor. Eine Petition, die von über fünfzig Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung von East Falls unterzeichnet wurde. Sie werden hiermit aufgefordert, in Anbetracht der jüngsten Ereignisse einen Umzug zu erwägen, und mit ihrer Unterschrift unterstützen die Unterzeichneten zugleich das großzügige Angebot des Gemeinderats.«
Die Frau streckte mir eine Papierrolle hin, wobei sie das Ende auf den Boden fallen ließ wie eine mittelalterliche Proklamation. Ich sah Dutzende von Namen darauf, lauter Namen von Leuten, die ich kannte – Nachbarn, Ladenbesitzer, Leute, mit denen ich bei den karitativen Weihnachtsveranstaltungen zusammengearbeitet hatte, Eltern von Savannahs Mitschülern, sogar ein paar von ihren Lehrern –, und alle forderten mich auf, fortzuziehen. Zu verschwinden.
Ich griff nach der Liste, riss sie in der Mitte durch und schob jedem der Gemeinderäte eine Hälfte in die Hand. »Nehmen Sie das wieder mit und sagen Sie dem Gemeinderat, wo er sich sein großzügiges Angebot hinstecken kann. Noch besser, sagen Sie jedem Menschen auf dieser Liste, dass er sich besser an mich gewöhnen sollte, ich ziehe nämlich nicht weg.«
Ich schlug die Tür zu.
Ich stand in der Tür zwischen Vorraum und Wohnzimmer, als hielte mich ein Bindezauber dort fest. Ich sah die Liste immer noch vor mir und wiederholte in Gedanken die Namen. Leute, die ich kannte. Leute, von denen ich geglaubt hatte, dass sie mich kannten. Zugegeben, sie hatten mich nicht sehr gut gekannt. Aber ich war keine Fremde. Ich hatte bei jedem Schulfest und jeder Wohltätigkeitsveranstaltung mitgeholfen. Ich hatte jeder Pfadfinderin Kekse und jedem Pfadfinder Äpfel abgekauft. Ich hatte Zeit, Geld und Mühe aufgewendet, was auch immer gerade gebraucht wurde und wann immer es gebraucht wurde, alles, weil ich wusste, wie wichtig es für Savannahs Zukunft war, dass ich dazugehörte. Und jetzt vergaßen sie all das und wandten sich ab. Wandten sich nicht nur ab, sondern stießen mich von sich.
Ja, was da in East Falls passiert war, war fürchterlich: die entsetzliche Entdeckung des satanischen Altars mit den verstümmelten Katzenkadavern, der unsägliche Horror von Carys Tod und seiner Gedächtnisfeier. Ich nahm es der Stadt nicht übel, dass die Leute nicht gerade mit warmen Mahlzeiten und Beileidsbekundungen angerannt kamen. Sie waren verwirrt und hatten Angst. Aber mich so offen zu verurteilen, zu sagen »Wir wollen dich nicht hier haben« – diese Zurückweisung schmerzte mehr als jedes Schimpfwort von einem Fremden.
Als ich schließlich wieder aus der Trance auftauchte, ging ich quer durchs Zimmer und ließ mich aufs Sofa fallen. Savannah setzte sich neben mich und legte mir die Hand aufs Knie.
»Wir brauchen die nicht, Paige. Wenn sie uns nicht hier haben wollen, scheiß auf sie, wir nehmen das Geld und suchen uns irgendwas Besseres. Du magst Boston,
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