Nacht der Leidenschaft
sollen?
Eine wohlmeinende Tante hatte Amanda sogar erklärt, dass sie der festen Überzeugung sei, der Herr habe ihr absichtlich keinen Ehemann geschickt, damit sie den armen, kranken Eltern zur Verfügung stehen könne. Amanda wäre es lieber gewesen, der Allmächtige hätte andere Pläne mit ihr gehabt. Außerdem war es keinem in den Sinn gekommen, dass Amanda vielleicht einen Ehemann bekommen hätte, wenn sie all die Jahre in der Blüte ihrer Jugend nicht für die Pflege von Mutter und Vater geopfert hätte.
Diese Jahre waren körperlich wie seelisch eine Tortur gewesen. Die Mutter, die früher scharfzüngig, wählerisch und unzufrieden gewesen war, hatte die Verheerungen der Schwindsucht mit Geduld und Würde ertragen, was Amanda erstaunt hatte. Vor ihrem Ende war die Mutter liebevoll und sanftmütig geworden, so wie Amanda sie nie kennen gelernt hatte, und die Stunde ihres Todes war für Amanda sehr schmerzlich gewesen.
Ihr Vater hingegen hatte sich von einem fröhlichen, lebensbejahenden Menschen in einen unvorstellbar schwierigen Patienten verwandelt. Amanda war ständig treppauf, treppab gelaufen, um ihm irgendwelche Dinge zu bringen.
Auch an den Mahlzeiten hatte er stets etwas anderes auszusetzen gehabt, und so war sie pausenlos damit beschäftigt gewesen, ihren ewig nörgelnden Vater zufrieden zu stellen, und hatte keine Zeit für sich gehabt.
Von ihrer eigenen Unzufriedenheit aber hatte sie sich nicht vergiften lassen wollen, und so hatte sie begonnen, in den späten Abend- und frühen Morgenstunden zu schreiben. Anfangs war es nur ein Mittel gewesen, um sich abzulenken, jedoch mit jeder Seite, die sie geschrieben hatte, war die Hoffnung gewachsen, dass ihr Roman eines Tages veröffentlicht werden würde.
Nachdem zwei Bücher von ihr verlegt worden waren und ihre beiden Eltern nicht mehr lebten, konnte Amanda endlich tun, was sie wollte. Den Rest ihres Lebens wollte sie in der größten, belebtesten Stadt der Welt verbringen, mitten unter den eineinhalb Millionen Menschen, die sie bevölkerten. Mit den zweitausend Pfund, die sie von ihrem Vater geerbt hatte, und dem Geld aus dem Verkauf des Hauses bezog Amanda ein kleines, aber elegantes Stadthaus im Westen Londons. Zwei ihrer Dienstboten nahm sie mit – Charles, den Bruder, und das Hausmädchen Sukey. Gleich nach Amandas Einzug in das neue Haus wurde eine Köchin, Violet, eingestellt.
London hatte bislang A ihre Erwartungen übertroffen. Obwohl sie jetzt schon sechs Monate in dieser Stadt lebte, wachte sie jeden Morgen freudig und voller Neugierde auf. Sie liebte den Schmutz und den Staub, den Lärm und die vielen Gerüche, die hastende Geschäftigkeit, die Menschenmassen und das heisere Geschrei der Straßenhändler am Morgen, das abends in Räderrollen und Hufeklappern überging, wenn die Londoner ihren abendlichen Beschäftigungen nachgingen. Allein die Vorstellung, dass sie an jedem Abend der Woche zu einer Abendeinladung gehen, an literarischen Zirkeln teilnehmen oder auch das Theater besuchen konnte, war erbaulich.
Zu ihrer Überraschung war ihr Name in der literarischen Welt Londons bekannt. Viele Verleger, Dichter und Journalisten hatten ihre Bücher gelesen. In Windsor hatte man ihre Romane als frivol abgetan, und für einen anständigen Bürger ziemte es sich nun mal nicht, solch unsittliches Geschreibsel zu lesen.
Amanda begriff selbst nicht, wieso ihre Bücher in krassem Gegensatz zu ihrer eigenen Person standen. Beim Schreiben schien der Bleistift ein Eigenleben zu entwickeln, kaum dass sie vor dem unbeschriebenen Blatt Papier saß. Sie beschrieb Charaktere, die es in ihrem eigenen Bekannten- und Freundeskreis nicht gab … Sie waren manchmal gewalttätig und rücksichtslos, aber immer leidenschaftlich; einige traten als Zerstörer auf den Plan, andere wieder gingen trotz mangelnder Moral als Sieger hervor. Amanda war durchaus bewusst, dass ihre erdachten Figuren samt ihrer Gefühle und Passionen nur aus ihrem eigenen Innern stammen konnten. Mit dieser Erkenntnis wollte sie sich allerdings nicht länger beschäftigen, sonst geriete womöglich ihr seelisches Gleichgewicht in Gefahr.
Romane im nobelsten Milieu hatte Jack ihr gegenüber erwähnt … Sie hatte viele davon gelesen: Geschichten über privilegierte Menschen, über ihre extravagante Lebensweise, ihre Liebschaften, über die Kleidung und den Schmuck, den sie trugen. Amanda wusste jedoch so wenig über die Oberschicht, dass sie keinen Roman schreiben könnte, der in
Weitere Kostenlose Bücher