Nacht der Seelen - Armintrout, J: Nacht der Seelen
trotzdem, diese Verletzungen hätte er auf keinen Fall überleben können. Kein Mensch konnte das.
Bitte, Gott, nein.
Nathan nahm das Gerät aus meinen zitternden Händen.
Ich konnte hören, wie Ziggy durchs Telefon rief: „Bist du noch dran? Ist da jemand?“
Nathan hörte es auch. Ich schlug die Hände vor den Mund, während ich ihn mit großen Augen ansah. Langsam hob er das Telefon an sein Ohr. Ich beobachtete sein Gesicht, während er zuhörte. Einen Moment stand er vor mir, hielt das Telefon und hörte der Stimme seines toten Sohnes zu, die ihn anflehte, etwas zu sagen. Im nächsten Moment zitterten seine Knie, und er fiel auf den Boden. Das Telefon reckte er in die Höhe wie ein Ertrinkender, der sich nach dem Schiffsuntergang an einem Stück Müll festhält, und der sein Glück nicht fassen kann, und ebenso schreckliche Angst hat, das Einzige loslassen zu müssen, das in diesem Augenblick sein Leben rettet.
Ziggys Bitten am anderen Ende der Leitung stoppte. Mein schweres Atmen schien die angespannte Stille nur noch zu verstärken. Ich hörte das blecherne Flüstern von Ziggys Stimme in Nathans Telefon. „Dad?“
Nathans Mund verzog sich zu einer Grimasse oder einem Lächeln – ich konnte es nicht erkennen. Seine Schultern zuckten, und er schluchzte tonlos, während er sich mitder Hand über die Augen fuhr. „Ich bin hier“, brachte er mit gepresster Stimme hervor.
„Wein nicht, verdammt, Nate, wein doch nicht.“ Auch wenn er kaum zu verstehen war, hörte ich, wie Ziggy selbst kaum seiner Aufforderung nachkommen konnte.
Nathans Gefühle rührten mich derart, dass er nicht verhindern konnte, dass ich von ihnen fortgerissen wurde wie Wellen in einer Sturmflut. Ich hatte mir schon so oft vorgestellt, wie es wäre, wenn jemand, den ich liebte, und von dem ich glaubte, er sei für immer fortgegangen, wie meine Eltern vielleicht, wieder in mein Leben treten würde. Zu erfahren, wie es sich dann tatsächlich anfühlte, war kein Geschenk – die Erleichterung, so scharf, dass sie eine Kaskade von Zweifel durchdrang, Hoffnung, verdunkelt von Furcht, eine Million Fragen, die sich übereinanderschoben und sich überlagerten, bis sie das Hirn vollständig lahm legten. Dieses Gefühl war eine Last. Ich stolperte einige Schritte rückwärts, bis ich an einen Stuhl stieß und mich darauf fallen ließ.
Nathan holte zitternd Luft, aber er konnte immer noch nicht sprechen, ohne dass die Tränen seine Stimme verzerrten. „Wo bist du?“
Ich konnte Ziggys Antwort nicht verstehen, aber ich spürte, dass sich Nathans Gefühle deutlich veränderten. Er hatte Angst, schreckliche Angst. „Du musst von da verschwinden. Sofort. Der Souleater wird mich suchen. Ich will nicht, dass er stattdessen dich dort findet.“
„Er ist in der Wohnung?“, flüsterte ich. Natürlich war er dorthin gegangen. Aber warum hatte er sich erst jetzt nach Hause zurückgezogen?
„Es ist mir egal, ob du glaubst, dass du es alleine schaffst, verschwinde dort sofort!“, fauchte Nathan Ziggy an. Es war ein wenig komisch, wie er so schnell in die totale Vaterrolle gewechselt war.
Etwas Grauenhaftes kam mir in den Sinn. Es war eine vage schreckliche Gewissheit, die nicht sofort klar zutage trat, als bräuchte ich noch Zeit, sie zu begreifen. „Nathan …“
„Ich sage dir, wo wir uns treffen können.“ Er beachtete mich nicht. „Was heißt das, dass du jetzt gerade nicht weg kannst?“
„Nathan, da stimmt etwas nicht.“ Ich hielt die Hand hoch. „Leg auf.“
Er legte die Hand auf die Sprechmuschel. „Nein, ich werde nicht auflegen!“ Indem er sich den Hörer wieder ans Ohr hielt, befahl er: „Bleib dort, wo du gerade bist. Ich komme und hole dich.“
Immer ängstlicher sah ich zu, wie Nathan das Telefon zusammenklappte. Er hatte sich nicht verabschiedet. Er konnte sich nicht von seinem Sohn verabschieden, da er es doch zuvor schon für immer getan hatte. Während er sich zu mir umdrehte, sagte er mir schlechter gelaunt, als er es wahrscheinlich meinte: „Bleib hier. Ich muss Ziggy holen.“
Als er, ohne eine Antwort abzuwarten, an mir vorbeirauschte, hielt ich ihn am Ellenbogen fest. „Nathan, warte!“
„Was?“ Er zog seinen Arm zurück. Es schmerzte mich zu sehen, wie ungeduldig er war, weil ich wusste, dass ich ihm sagen musste, dass ich hinter dem Anruf eine Falle vermutete.
„Da stimmt etwas nicht. Warum hat sich Ziggy nicht schon vorher mit uns in Verbindung gesetzt?“ Ich war mir nicht sicher, ob ich glauben
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