Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall
Moped auf den Hof. Pucci stürzte auf ihn zu.
«Wo ist dein Bruder?», herrschte er den Bauern an.
Franco blieb auf seinem Moped sitzen, ein Bein rechts, das andere links fest auf dem Boden, zog ein wenig den Kopf ein und warf einen unsicheren Blick auf Guerrini. Der nickte kaum merklich.
«Wo ist dein Bruder, Rana!» Jetzt schrie Pucci beinahe.
Franco schluckte schwer.
«Er … er ist bei meinem Onkel. Er ist ein freier Mann, ist er das nicht?»
«Er ist kein freier Mann!», schrie Pucci. «Er wurde unter Vorbehalt entlassen. Der Richter war sich nicht sicher! Warum hast du ihn weggebracht?»
«Nun mal langsam, Maresciallo!», sagte Guerrini. «Es gibt keinen Grund, Signor Rana anzuschreien. Signor Rana wird uns zu seinem Bruder bringen, und damit wird sich die Angelegenheit klären lassen.»
«Ich soll Sie hinbringen?» Etwas wie Entsetzen klang aus Francos Stimme.
«Ja, bring uns hin!» Guerrini nickte.
Laura beobachtete Franco Rana, der wie erstarrt auf seinem Moped hing, mit gegrätschten Beinen, die Arme irgendwie schlaff, obwohl seine Hände die Lenkstange umklammerten.
Irgendetwas stimmt nicht, dachte sie, spürte ein Ziehen in der Magengegend und in der Wirbelsäule.
«Los, mach schon!» Pucci wandte sich zum Jeep. «Er kann bei mir einsteigen!»
Guerrini warf Laura einen Blick zu.
«Ich denke, wir fahren alle vier im Jeep. Ich lasse meinen Wagen hier stehen.»
«Wieso …», wollte Pucci hochfahren, doch Guerrini unterbrach ihn.
«Weil es Benzin spart!»
Pucci stieß einen leisen Fluch aus und warf sich auf den Fahrersitz, fuhr los, ehe sie die Türen geschlossen hatten.
Keiner sprach. Erst an der Hauptstraße gab Franco mit heiserer Stimme ein paar Anweisungen. Pucci schlug die Straße zum Monte Amiata ein. Leere Felder, aufgeworfene Erdbrocken, einsame Höfe auf flachen Hügeln. Fast eine Stunde waren sie unterwegs, bis die Straße anstieg, Bäume sich in die Landschaft schoben. Franco wies auf einen Feldweg, der in eine Schlucht führte, dann steil nach oben durch Laubwälder, die noch grün waren, obwohl der Oktober in zwei Tagen beginnen würde.
Lauras Handy durchbrach das Schweigen.
«Gottberg.»
«Hören Sie, Laura! Meine Geduld ist so ziemlich am Ende. Ich habe mehrmals versucht, Sie zu erreichen. Sie haben kein einziges Mal zurückgerufen. Sind Sie verrückt geworden?»
Laura schloss kurz die Augen. Nicht Becker und nicht jetzt!
Sie hatte ihn beinahe vergessen.
«Es tut mir Leid», sagte sie. «Hier ist in den letzten vierundzwanzig Stunden derart viel passiert, dass ich keine Minute Zeit hatte.»
«Keine Minute? Machen Sie sich nicht lächerlich, Hauptkommissar Gottberg! Sie benehmen sich, als könnten Sie auf eigene Faust ermitteln. Das wird Konsequenzen haben. Ich muss hier eine wild gewordene Meute von Reportern davon abhalten, in die Toskana zu rasen, und Sie sagen, dass es Ihnen Leid tut. Was zum Teufel ist da unten los?»
«Wir haben einen zweiten Mordfall. Rolf Berger wurde tot aufgefunden.»
«Was, noch einen? Obwohl Sie in diesem verdammten Kloster wohnen? Warum weiß ich nichts davon? Was machen Sie eigentlich? Genießen Sie die toskanische Küche und den Rotwein, oder was?»
«Wir haben noch keine konkreten Ergebnisse. Der Fall ist kompliziert. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen! Aber ich würde Ihnen empfehlen, den Reportern erst mal nichts über den neuen Mord zu erzählen.»
«Sie haben mir gar nichts zu empfehlen, Laura. Die Reporter werden es wahrscheinlich blitzschnell rauskriegen. Was soll ich denen denn sagen?»
«Sagen Sie ihnen, dass wir unter Hochdruck ermitteln, dass es Verdachtsmomente gibt. Dass aber noch nichts Genaues mitgeteilt werden kann, weil man Unschuldige schützen muss. Tun Sie einfach genau, was Sie immer machen!»
«Werden Sie nicht unverschämt, Hauptkommissar! Ich erwarte noch heute Abend einen Anruf, in dem Sie mir ganz genau mitteilen, was da unten passiert. Um sieben Uhr im Büro!»
«Warten Sie …», rief Laura. Doch Becker hatte aufgelegt.
«Dein Chef?», fragte Guerrini und verzog das Gesicht.
Laura nickte, starrte aus dem Fenster. Gespräche wie dieses gehörten zu ihrem Leben, seit sie bei der Polizei war. Immer wieder wurde ihr eigenmächtiges Handeln vorgeworfen. Wäre sie nicht so erfolgreich in ihrer Arbeit, hätte man sie vermutlich längst suspendiert oder gar entlassen. Aber sie hasste es, abgekanzelt zu werden wie ein Schulmädchen. Noch immer konnte sie nicht begreifen, warum Vorgesetzte kein Vertrauen in
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