Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall
Tür hinter sich zu, trat mit dem Fuß gegen das Treppengeländer und horchte gleichzeitig nach hinten. Aber die Tür blieb geschlossen. Die Auseinandersetzung war vorläufig beendet.
Sie rannte die Treppe nach unten, grüßte im Vorüberlaufen einen Nachbarn, verließ das Haus, sprang in ihren Wagen und fuhr mit quietschenden Reifen an, bremste kurz darauf, denn sie kam sich dumm und unbeherrscht vor – genau wie Peter Baumann ein paar Stunden zuvor. Sie zwang sich, langsam zu fahren, achtete bewusst auf den Verkehr, die Straßen, Häuser, Menschen. Lenkte den Wagen am Maximilianeum vorbei, von dem ihr Vater behauptet hatte, dass es ein Märchenschloss sei, mit einer Märchenkönigin und einem Märchenkönig, bis sie im Alter von acht Jahren herausgefunden hatte, dass es nicht stimmte. Dass es ein Versammlungsort für Leute war, über die Vater meistens schimpfte. Da musste sie plötzlich lachen, und als sie die Maximiliansbrücke überquerte, endlich am Fluss entlangfuhr, dachte sie an Italien und daran, dass sie bald Olivenbäume, Pinien und Zypressen sehen würde und die Hügel der Toskana. Und sie nahm sich vor, diese Ermittlungen als eine Art Urlaub zu nehmen, ohne ihre Familie, ohne Baumann, ohne den Dezernatsleiter – nur für sich, ganz heimlich.
Beinahe hätte sie die Abzweigung verpasst, die zu der stillen kleinen Straße am Englischen Garten führte, in der der Vater wohnte. Es wurde schon dunkel. Der September neigte sich seinem Ende zu. Laura bremste vor dem zweistöckigen Apartmenthaus und angelte die Rotweinflasche zwischen den Sitzen hervor, die sie am Nachmittag gekauft hatte. Ein besonders teurer Barolo, Vaters Lieblingswein. Als sie zum Haus ging, spürte sie den herbstlichen Hauch, der vom Park herüberwehte, zarter Geruch nach feuchten Blättern und eine Ahnung kommender Nebel. Sie hielt einen Augenblick inne und sog die Luft tief in ihre Lungen. In Italien war noch Sommer. Sie dachte plötzlich an das Foto der jungen Frau auf dem schwarzen Schreibtisch in dem roten Zimmer. Das Bild einer Fremden, einer Toten, die nichts mit ihr, Laura Gottberg, zu tun hatte. Und dann fiel ihr ein, was sie Luca sagen wollte, wenn er wieder über ihre vergammelten Leichen spotten würde. Ich bin neugierig, würde sie sagen. Ich will wissen, warum manche Menschen einen frühen, gewaltsamen Tod sterben. Mich interessiert, was sie in diese Situation treibt, was sie selbst dazu tun und was andere mit ihnen machen. Es ist der dunkle Teil des Lebens, der mich anzieht, der Teil, den die meisten Menschen verleugnen.
Sie lehnte sich gegen die Tür und lächelte über sich selbst. Ob Luca das verstehen würde? Einen Versuch wäre es immerhin wert. Sie klingelte, obwohl sie einen Schlüssel zur Wohnung ihres Vater besaß. Sie klingelte immer, als Zeichen des Respekts vor seiner eigenen Welt, wollte ihn nicht in einer Situation überraschen, die ihm unangenehm wäre. Es dauerte lange, ehe seine brüchige Stimme aus der Sprechanlage erklang.
«Bist du’s, Laura?»
«Ja, Papa. Ich bin’s!»
«Na endlich!»
Sie nahm zwei Stufen auf einmal. Seine Wohnungstür im ersten Stock stand offen, und er erwartete sie im Halbdunkel des Flurs, leicht gebückt, eine Hand auf der florentinischen Kommode, die ihre Mutter mit in die Ehe gebracht hatte.
«Komm rein! Aber schnell. Ich seh gerade meine Lieblingsseifenoper. Sie ist die Grundlage für eine Abhandlung über den Schwachsinn unserer Gesellschaft, an der ich arbeite!» Er lachte trocken auf, küsste Laura auf die Wange und humpelte ins Wohnzimmer zurück.
«Setz dich, setz dich! Schau’s dir mit mir an. Dann können wir hinterher drüber reden. Magst du einen Schluck Wein? Da steht die Flasche. Aber sei jetzt ruhig. Ich will nichts versäumen!»
Laura zog ihre Lederjacke aus und warf sie über die Sofalehne. Sie nahm ein Glas aus der Vitrine, goss sich einen winzigen Schluck Wein ein und setzte sich neben ihren Vater. Er tätschelte abwesend ihren Arm, beachtete sie aber sonst nicht, sondern starrte angestrengt auf den Bildschirm. Laura nippte an ihrem Glas und beobachtete den alten Mann. Seit dem Tod ihrer Mutter arbeitete er ständig an irgendwelchen Abhandlungen über das Leben, die Gesellschaft, die Religion, den Tod. Sein weißes Haar war sehr dicht und stand ebenso widerspenstig um seinen hohen Schädel wie ihre eigenen Locken. Seine Augen lagen tief in den Höhlen und seine Gesichtshaut schien in den letzten Wochen schlaffer geworden zu sein, die Falten tiefer.
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