Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall
ihm dankbar, dass er nicht einfach zum vertraulichen Du übergegangen war.
«Wetten!», erwiderte sie und schaute auf die blinkende Nummer auf ihrem Telefon. Es war nicht der alte Gottberg, sondern ihre Privatnummer. Laura hatte nicht die Absicht gehabt, das Gespräch anzunehmen, doch jetzt drückte sie auf den Knopf.
«Hallo, Mama!»
«Hallo, Sofi!»
«Warum hast du mich denn nicht angerufen, Mama? Hast du meine SMS gekriegt?»
«Ja, hab ich, Sofi! Und ich freu mich so, dass Mathe nicht so schlimm war!»
«Schlimm schon … aber es ging. Warum hast du nicht angerufen?»
«Es ging nicht, Sofi! Wenn ich Zeit hatte, dann warst du in der Schule! Ich hab Luca angerufen – spätnachts! Hat er dir das nicht erzählt?»
«Doch, aber ich dachte …»
«Was denn?»
«Ich wollte einfach mit dir reden, Mama.»
«Jetzt kannst du’s ja!»
«Wo bist du denn?»
«Jetzt gerade in Siena. Da waren wir auch schon zusammen. Erinnerst du dich? Die Stadt mit dem komischen Platz, der bergauf geht und in der Mitte einen Brunnen hat und viele Tauben, hinter denen bist du dauernd hergelaufen.»
«Ja, und wir haben Pizza gegessen, und eine Taube hat in Papas Weinglas gemacht! Ich kann mich genau erinnern!»
«Richtig», sagte Laura.
«Isst du auch Pizza?»
«Nein. Ich stehe gerade in einem Gerichtsgebäude, und jetzt müssen wir einen jungen Mann aus dem Gefängnis holen, weil er unschuldig ist.»
«Oh», sagte Sofia. «Weißt du schon, wer die Frau in die Isar geschubst hat?»
«Nein, Sofi. Aber wir werden es hoffentlich bald wissen. Wie geht’s dir denn, mein Schatz?»
«Ganz gut. Papa kocht fast jeden Tag Nudeln oder Kartoffelbrei. Wie früher. Er ist nett …»
«Prima!» In Lauras Hals saß plötzlich ein Kloß. Sie wollte nicht an früher erinnert werden, nicht an Urlaube in Siena und nicht an Kartoffelbrei!
«Wann kommst du denn wieder, Mama?»
«Bald, Sofi. Aber ganz genau kann ich es noch nicht sagen.»
«Lass dir nur Zeit … hier geht’s ganz gut. Papa ist lustig!»
«Das ist schön, Sofi.» Der Klumpen in Lauras Hals wuchs. Sie konnte sich gut vorstellen, wie Ronald den perfekten Vater spielte. Für eine Woche oder zwei. Da war er immer perfekt!
«Sofi, ich muss jetzt aufhören», sagte sie mit belegter Stimme. «Ich hab dich lieb, und du fehlst mir, mein Schatz.»
«Du mir auch, Mama!» Sofias Antwort klang in Lauras Ohren wie eine Höflichkeitsfloskel. Sofia vermisste sie nicht wirklich, dafür würde Ronald schon sorgen. Er konnte wunderbar sein, wenn er sich ins Zeug legte. Aber sie selbst hatte auch nicht die Wahrheit gesagt. Sie liebte Sofia und Luca, aber sie fehlten ihr nicht. Ihr wurde in diesem Augenblick bewusst, dass sie zum ersten Mal seit Jahren allein war und andere Dinge wichtiger waren als ihre Kinder. Dass sie für wenige Tage ein Stück Freiheit ergattert hatte, wie sie es schon fast nicht mehr kannte. Langsam versenkte sie das Handy in ihren Rucksack und sah sich nach Guerrini um. Er stand beim Pförtner und schien in ein angeregtes Gespräch verwickelt zu sein.
«Wie ein Walross ist er raus!», hörte sie den Pförtner prusten. «Rauchwolken hat er ausgestoßen, Commissario. Und ich habe mir gedacht, diesmal hat er es ihm gegeben, der Commissario!»
Guerrini winkte Laura heran.
«Die Signora Commissaria hat es ihm gegeben, Leonardo. Du hättest sehen sollen, wie sie ihn reingelegt hat. Wirklich gut. Ich hätte das nie geschafft!»
«Bravo, Signora!», strahlte Leonardo.
«Danke!», erwiderte Laura. «Euer Richter scheint ja sehr beliebt zu sein!»
«Er ist …», Leonardo hob schon wieder beide Hände, beschwörend diesmal, als wolle er einen bösen Geist fernhalten, «… er ist ein bisschen schwierig, nicht einfach, wenn Sie verstehen!»
«Ich verstehe!» Laura lächelte dem Pförtner zu und trat auf den Hof des Gerichtsgebäudes hinaus. Es hatte aufgehört zu regnen, und die Luft war frisch und weich. Hinter dunklen Wolkenfetzen zeigte sich schon wieder blauer Himmel. Ein paar vorwitzige Sonnenstrahlen tauchten die mittelalterlichen Gebäude in unwirkliches Licht. Über die glänzenden Dachziegel des nächsten Häuserblocks lugte der Turm eines Palazzo.
Laura merkte Guerrini hinter sich. Er stand so nah, dass er sie beinahe berührte, nur beinahe. Doch es genügte.
«Fahren wir», sagte er leise, und sie konnte seinen Atem in ihrem Nacken spüren.
W ovor fürchte ich mich eigentlich?, dachte Laura, als sie wieder neben Guerrini im Wagen saß. Warum nehme ich ihn
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