Nacht der Versuchung
krank«, war das einzige, was der Konsul sagen konnte. Es hatte keinen Sinn, der kleinen Estrella medizinische Erklärungen zu geben. So traurig es war, und die spanische Edelmannseele des Konsuls schmerzte dabei, es blieb keine andere Wahl: Estrella mußte vergessen, daß es jemals einen Fernando gegeben hatte.
Die Heimfahrt bezahlte Margit. Sie kaufte für Estrella Kleider und Wäsche und legte Geld zwischen die Sachen.
Wortlos ließ sich Estrella zum Flugplatz führen, stumm, ohne sich umzusehen, stieg sie in das Flugzeug. Nie mehr würde sie die Insel verlassen, und keiner auf der Insel würde sie zur Frau nehmen. Ihr ganzes weiteres Leben lang würde sie nur in der Erinnerung an Fernando leben, von dem man sagte, daß es ihn nicht gäbe.
Die Tür fiel zu, die Turbinen gellten auf, die Gangway wurde weggefahren. Aber an keinem Fenster erschien der Kopf Estrellas. Sie saß, in sich zusammengesunken, auf ihrem Platz, hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und weinte.
Auf dem Flugplatz von Barcelona würde ihr Vater warten, das wußte sie. Und er würde sie mitnehmen auf das Schiff, ohne zu fragen, was gewesen war. Aber nie mehr würde sie lachen können. Wie eine Sklavin würde sie arbeiten müssen, in einem schwarzen Kleid, einer Witwe gleich.
»Bitte anschnallen!« sagte eine Stimme aus dem Lautsprecher. Ein Zittern glitt durch den glänzenden Leib des Flugzeuges. Es rollte langsam zur Betonbahn.
In diesem Augenblick erschien der Diener von Blankers mit einem Taxi, einen Koffer in der Hand. Der Koffer mit den neuen Kleidern und den Geldscheinen.
Estrella hatte ihn vergessen, oder wollte sie ihn vergessen?
Zögernd winkte Margit dem entgleitenden silbernen Vogel nach. Auch der spanische Konsul an ihrer Seite winkte.
»Madame«, sagte er, als sich der Düsenriese in die kalte, klare Dezemberluft hob, »um ehrlich zu sein: Auch ich verstehe nicht völlig, daß ein Mensch zweimal leben kann, ohne sich an das andere Leben erinnern zu können.«
»Ich verstehe es auch nicht, Herr Konsul.« Margit bückte sich und nahm den von Estrella vergessenen Koffer vom Boden. »Aber es ist so. Was bleibt uns anderes übrig, als das Unfaßbare zu ertragen?«
*
Wie versprochen wurde Klaus Blankers am 23. Dezember aus der Klinik entlassen. Sein dicker Kopfverband war abgenommen worden; nur ein Pflaster am Hinterkopf und der kahlgeschorene Schädel, den jetzt millimeterlange Haarstoppeln bedeckten, erinnerten daran, daß Klaus Blankers vom Schicksal reich beschenkt worden war: Er durfte weiterleben.
Professor Mayfelder hatte bisher keinerlei Nachwirkungen entdecken können. Intelligenztests fielen vorzüglich aus. Blankers erinnerte sich an alles – nur nicht an Spanien und die Insel Baleanès. Er konnte rechnen und logisch denken, wußte sogar Worte und Sätze seines Schullateins und nannte geschichtliche Jahreszahlen. Nur bei Wetterumschwüngen klagte er über stechende Schmerzen im Kopf, aber das war nicht beunruhigend. Ein Gehirn ist wie ein Seismograph, es reagiert auf die kleinsten Schwingungen.
In der Blankersvilla empfing den ›Chef‹ ein ›großer Bahnhof‹, wie Pommer es nannte. Von der Köchin bis zum Direktor standen sie Spalier in der großen Halle, in den Händen Blumen und Geschenke. Das Hausmädchen weinte vor Ergriffenheit, der Diener kaute an der Unterlippe, selbst Dr. Preußig spürte ein Brennen in den Augen. Nur Fred Pommer, in einem dunkelblauen Maßanzug mit silbergrauer Krawatte, blieb gelassen und eröffnete elegant und gewandt den Reigen der Gratulationen.
»Es ist sinnlos, große Worte zu machen«, sagte er, nach einem kurzen Blick auf Margit, die Blankers untergefaßt hatte und Pommers Blick auswich, indem sie über seinen Scheitel hinweg auf ein Bild an der Wand starrte, »denn was wir alle jetzt empfinden, ist nicht in Worte zu fassen. Sagen wir schlicht: Wir sind glücklich, Sie wieder unter uns zu wissen. Es ist wahrhaftig unser schönstes Weihnachtsgeschenk.«
Die Reihe der Gratulanten nickte stumm Beifall. Margits Blick ging zu Pommer zurück. Sein Lächeln war aufreizend, aber nur für den, der wußte, was sich hinter dieser glatten Maske verbarg.
»Ich danke Ihnen aus vollem Herzen«, sagte Blankers sichtlich ergriffen und nahm den großen Blumenstrauß entgegen, den Dr. Preußig im Namen des Werkes überreichte. »Glauben Sie mir, daß ich nach all dem Erlebten doppelt zu schätzen weiß, was Freundschaft bedeutet.« Demonstrativ reichte er Pommer beide Hände und
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