Nacht des Flamingos
seinen Regenschirm aufzuheben, tauchte Vernon in der Türöffnung auf. Carver und Stratton spähten ihm neugierig über die Schulter.
Craig nickte den drei Männern kurz zu.
»Sie werden von mir hören, Vernon«, sagte er und entfernte sich rasch.
Kaum zehn Minuten später läutete das Telefon auf Nick Millers Schreibtisch im Dienstraum der Kriminalpolizei. Er hob den Hörer ab. Eine vertraute Stimme, heiser geworden vom täglichen Alkoholgenuß, drang an sein Ohr.
»Spricht dort Sergeant Miller? Hier ist Sailor – Sailor Hagen. Ich bin in einer öffentlichen Zelle am Stadtplatz. Ich habe etwas für Sie. Was wollen Sie sich's kosten lassen?«
»Das kommt darauf an«, versetzte Miller.
»Handelt sich um den Burschen, der Harry Faulkners Klub übernommen hat. Max Vernon.«
Miller war schon auf den Beinen.
»Ich bin in einer Viertelstunde unten am Brunnen«, sagte er und legte auf.
Als Miller hereingeführt wurde, befand sich Vernon im großen Spielsaal und überprüfte die Vorbereitungen für den Abend.
»Sie haben sich den ›Flamingo Club‹ wohl plötzlich zum Stammlokal erkoren«, bemerkte Vernon.
»Sparen Sie sich Ihre witzigen Bemerkungen«, versetzte Miller. »Was hat sich heute im ›Bull and Bell‹ abgespielt?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Duncan Craig suchte Sie vor knapp einer Stunde dort auf. Ich höre, er soll Ihnen gedroht haben, Sie zu töten.«
Vernon lehnte sich lässig an einen Roulettetisch und lachte leise.
»Da hat Ihnen jemand einen Bären aufgebunden, mein Bester.«
»Das ist eine ernste Sache, Vernon«, sagte Miller. »Was mit Ihnen geschieht, ist mir völlig gleichgültig, aber ich mache mir Sorgen um Duncan Craig.«
Vernon zuckte die Achseln.
»Was mich betrifft, so ist diese Angelegenheit für mich erledigt.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Craigs Tochter wird heute um vier Uhr auf dem Saint-Gemma-Friedhof begraben. Ich habe einen Kranz hinschicken lassen. Was kann man denn noch mehr von mir verlangen.«
»Was haben Sie getan?« fragte Miller ungläubig.
Vernon lächelte unbewegt.
»Hin und wieder muß man sich an die Gepflogenheiten halten.«
Miller vergrub die Hände in den Taschen seines Jacketts. Eine lange Zeit stand er stumm da und kämpfte gegen den Impuls an, auf Vernon loszugehen und seinem ohnmächtigen Zorn Luft zu machen. Dann drehte er sich wortlos um und eilte zur Tür. Hinter ihm fing Vernon wieder zu lachen an.
Es regnete heftig, als Miller zur St.-Gemma-Kirche fuhr. Er stellte den Cooper auf der Hauptstraße ab und betrat den Friedhof durch eine Seitenpforte. Langsam schritt er den schmalen Pfad entlang, der von hohen Pappeln gesäumt war.
Aus der Ferne konnte er die Stimme Pater Ryans vernehmen. Und als er näher kam, sah er die kleine Trauergemeinde. Es hatten sich nicht mehr als ein halbes Dutzend Menschen eingefunden. Sie umstanden das offene Grab, während die Stimme des alten Geistlichen kräftig und tröstlich durch das Rauschen des Regens schallte.
Miller wich vom Pfad ab und wartete hinter einem pompösen Marmorgrabmal. Es dauerte noch eine Weile, ehe Pater Ryan zum Ende kam. Dann löste sich die kleine Gruppe auf. Harriet Craig, das Gesicht tränenüberströmt, wurde von dem jungen Dienstmädchen behutsam weggeführt. Pater Ryan folgte ihnen. Nur Duncan Craig stand noch allein neben dem Grab.
Miller trat zu ihm.
»Es hat keinen Sinn«, sagte er leise. »Es würde Joanna auch nicht wieder zurückbringen.«
Craig wandte sich ihm zu.
»Sind Sie Gedankenleser?«
»Ich weiß, was heute nachmittag im ›Bull and Bell‹ geschehen ist.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«
»Genau das behauptete Max Vernon, als ich ihn vorhin aufsuchte. Doch es steht fest, daß Harry Parsons Schulter luxiert ist und seine Nase gebrochen. Wer, glauben Sie wohl, ist dafür verantwortlich?«
Craig blickte schweigend hinunter in das offene Grab.
»Sie war ein wunderbarer junger Mensch, Sergeant. Und jetzt sind alle Träume in Nichts zerronnen.«
»Das mit dem Kranz tut mir leid«, sagte Miller.
Craig runzelte die Stirn.
»Was für ein Kranz?«
»Der Kranz, den Vernon geschickt hat. Weiß der Himmel, wo er diese Kaltschnäuzigkeit hernimmt.«
»Es freut mich, Ihnen mitteilen zu können, daß Sie falsch informiert sind, Sergeant«, erwiderte Duncan Craig. »Wir haben von Max Vernon keinen Kranz bekommen.« Er schlug seinen Mantelkragen hoch und
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