Nacht des Verfuehrers - Roman
Vernunft. Das Osmanische Reich ist der Ort in Europa, an
dem sich zwei große Weltreiche treffen – Russland im Osten und Österreich im Norden. Beide Seiten möchten die Landstriche kontrollieren, welche die Osmanen aufgeben müssen, während Briten und Franzosen gerne sehen würden, dass die Dinge bleiben, wie sie sind, damit hier keiner eine Vormachtstellung erringt.«
»Das wusste ich nicht«, sagte sie leise. Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Wer sind Sie überhaupt?«
»Dumitru Constantinescu«, sagte er übertrieben beiläufig.
Sie hatte kurz einen angespannten Zug um den Mund, dann entspannte sie sich wieder. »Und Ihr geschätzter Titel?«, fragte sie pointiert. Er wusste genau, dass es ihr eh nur darum gegangen war.
»Ich ziehe es vor, den eines Grafen zu benutzen«, sagte er und hoffte, dass das den Schaden etwas behob, den sein Täuschungsmanöver angerichtet hatte. »Der Titel steht mir in jedwedem Fall zu, da er sowohl vom österreichischen Kaiser als auch vom Zaren anerkannt wurde.«
Sie sah ihn misstrauisch an. »Aber vom Sultan nicht? Die Walachei wird immer noch von den Türken kontrolliert – oder irre ich mich?«
Dumitru schnaubte. »Der Sultan hat in Rumänien schon seit Jahrhunderten keine Titel mehr vergeben, freiwillig verleiht er ohnehin keine erblichen Adelsprädikate, und schon gar nicht an Christen. In Rumänien und Ungarn schmücken sich ein paar Bojaren mit Titeln nach eigenem Gusto, doch lediglich die, die von Russland und Österreich anerkannt werden, werden auch vom Westen als echt erachtet. Sicher, wenn Sie lieber keine Gräfin sein möchten, können Sie sich auch ›Prinzessin Constantinescu‹
nennen. Das hätte zwar weniger Gewicht, weil sich alle Nachfahrinnen der Hospodaren so nennen, klingt aber besser.«
»Prinzessin Constantinescu«, wiederholte sie. Ihre Lippen zuckten verächtlich.
»Ein bloßer Ehrentitel«, sagte er nochmals.
»Trotzdem ist es bedauerlich, dass man mich auf dem Ball der Ferrers nie als Prinzessin und Gräfin ankündigen wird«, sagte sie mit einem unergründlichen Ausdruck in den Augen. »Es würde eine Reaktion hervorrufen, die fast schon die Reise nach England wert wäre.«
Dumitru hörte den Schmerz heraus, der sich hinter den wenigen Worten verbarg, und fing an zu begreifen, wie ihr gesellschaftliches Leben ausgesehen haben musste – die Tochter eines Industriellen, deren Schönheit den Hass und den Standesdünkel aller zur Eifersucht neigenden Frauen auf sich zog, die aber nicht jenen speziellen Charme besa ßen, der die Männer dazu bewegte, sie trotz der Verachtung anzubeten, die Mütter und Schwestern gegen sie hegten. »Es liegt Ihnen also um Ihrer Selbst willen an einem Titel.«
»Warum hätte ich sonst in diese Sache hier einwilligen sollen«, sagte sie stirnrunzelnd.
Dumitru zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht recht, ob ich überhaupt einschätzen kann, aus welchen Gründen Sie etwas tun«, musste er zugeben.
Sie wurde ganz still, konzentrierte sich ganz auf ihn. »Was für eine sonderbare Bemerkung. Ich glaube nicht, dass ich je jemanden getroffen habe, der nicht so getan hat, als wisse er genau, was eine Frau meines Alters möchte. Lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen, welche die Frage
von vorhin schon halb beantwortet: Wenn ich nicht getan hätte, was man von mir erwartete, was hätte ich wohl stattdessen getan?«
Dumitru schüttelte wehmütig den Kopf. »So habe ich das noch nicht gesehen.«
»Und ist es dann nicht sonderbar, dass Sie darüber nachdenken, wer ich bin, anstatt einzig und allein über die Frage, welchen Nutzen ich für Sie habe?« Alcyone lächelte traurig. »Sicher, die Tatsache, dass Sie Rumäne sind – und ich bin sicher, Sie hätten mich korrigiert, wenn ich mich irrte – beeinflusst meine Sicht dieser Verbindung, ganz abgesehen von den Zweifeln, die man am Charakter eines Mannes haben muss, der einem anderen Mann die Verlobte wegnimmt und sie mit einem Trick dazu bringt, ihn zu heiraten.«
»Not ist eine schwierige Geliebte.« Dumitru schenkte ihr sein spitzbübischstes Grinsen. Was ein Fehler war, denn sie reagierte mit einem eiskalten Blick. Allerdings kroch ihr ein zarter roter Hauch in die Wangen; sie war nicht so immun, wie sie es gerne gewesen wäre.
»Ja, das ist wohl wahr«, pflichtete sie ihm bei. »Und die Not erfordert, dass ich meine Lage genau abwäge. Wäre ich mit einem ungarischen Adeligen verheiratet, würde ich mindestens die Hälfte des Jahres am Kaiserhof in Wien
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