Nacht des Verfuehrers - Roman
beherrschte. Sie las Bücher und Journale aus ganz Europa.
»Ich glaube, ich habe eine Wissenschaftlerin geheiratet.« Er lächelte freudlos über sich selbst und Alcys Verlegenheit. Sie hatte die Kontrolle über das Geld, warum sollte sie nicht auch einer männlichen Beschäftigung nachgehen? Bald würde sie die Hosen anhaben und er das Korsett.
»Du brauchst nicht so belustigt zu tun.« Sie zog die Augen zu grünen Schlitzen zusammen und schürzte in einer Art die Lippen, die gar nicht zu ihrem Gesicht passte.
»Und warum nicht?«, erwiderte Dumitru. Nach den Erkenntnissen des heutigen Vormittags verspürte er ein gewisses Verlangen, sie ein wenig zu quälen. »Nicht jedem Mann wird eine solche Ehre zuteil.«
»Wie gesagt, es handelt sich um ein Spiel, mehr nicht. Bitte lass mich in Frieden meinem kleinen Zeitvertreib nachgehen«, sagte sie schmallippig. Dann zog sie ihm die Bücher weg, kehrte ihm den Rücken und baute sich zwischen ihm und dem Schreibtisch auf, während sie alles an seinen Platz legte.
»Alcyone -«, hob er an. Sie erstarrte, und er brach ab. Die Belustigung war auf der Stelle dahin und wich einer schuldbewussten Reue. Er mochte der Dispositionen ihres Vaters wegen enttäuscht sein, aber darüber hatte Alcy nicht zu entscheiden gehabt. Wenn jemand einen Fehler gemacht hatte, dann er: Die Einzelheiten der Mitgiftregelung waren sicherlich in einem der Briefe aufgeführt gewesen, die Benedek erhalten hatte, nur hatte Dumitru sie falsch interpretiert. Es war ehrlos, seine Frustration an ihr auszulassen.
»Alcy«, fing er wieder an, diesmal sanfter. »Ich verspotte dich nicht. Es kommt einfach so unerwartet. Es ist faszinierend, aber unerwartet. Was ich am meisten gefürchtet habe – abgesehen davon, dass du eine abscheuliche, mordlüsterne, verrückte Achtzigjährige sein könntest -, war, dass du stumpfsinnig sein würdest, aber du hast eindrucksvoll bewiesen, dass du alles andere bist als das.«
Ihre Schultern entspannten sich ein wenig, doch sie drehte sich immer noch nicht um. »Die meisten Leute halten Mathematik und Philosophie für stumpfsinnig.«
Da hatte sie nicht ganz Unrecht, aber das konnte er nicht zugeben – zumindest jetzt nicht. »Ich kenne mich nicht damit aus«, sagte er in dem Versuch, dem Gespräch eine gewisse Leichtigkeit zu verleihen. »Ich hatte nie ein besonderes Talent oder Interesse daran, aber ich galt in sämtlichen Fächern, die nicht sofort meine Phantasie angeregt haben, als schlechter Schüler. Und meine Phantasie war immer sprunghaft.«
Ob dieser Selbstkritik drehte Alcy sich endlich um, ein zartes Lächeln auf den Lippen. Auch wenn sie nichts sagte, so wusste er doch, dass sie ihm verziehen hatte. Ihre Augen hatten einen sanften moosigen Grünton angenommen, und in ihre kurzzeitig gespenstisch bleichen Wangen kehrte die Farbe zurück. Sie war so schön, dass es fast schon wehtat, doch sie schien sich ihres Charmes und ihrer Zerbrechlichkeit nicht bewusst zu sein.
»Woran arbeitest du gerade?«, wagte er zu fragen. Es interessierte ihn nicht brennend, aber er wusste, dass sie ihm gern davon erzählen würde.
»An einem Problem, an dem ich jetzt schon seit drei Jahren arbeite. Ich nenne es die extrakomplexen Zahlen.«
Der Enthusiasmus in ihrer Stimme wäre ansteckend gewesen, hätte er nur die leiseste Ahnung gehabt, wovon sie sprach. Aber die hatte er nicht, also sah er sie nur an.
Sie seufzte. »Weißt du, was imaginäre Zahlen sind?«
»Nein«, antwortete er aufrichtig.
Sie runzelte die Stirn. »Aber sicher weißt du, was Quadratwurzeln sind.«
»Natürlich«, sagte er und ärgerte sich etwas über ihren Ton.
»Nun, eine imaginäre Zahl ist das, was du erhältst, wenn du die Quadratwurzel aus einer negativen Zahl ziehst«, sagte sie, als wäre es die logischste Sache der Welt.
»Das ist unmöglich«, widersprach er sofort. »Es erscheint einem abwegig, wenn man das erste Mal darüber nachdenkt«, gab Alcyone zu. »Und zwar deshalb, weil einem in der realen Welt natürlich keiner eine negative Quadratwurzel zeigen kann. Sie vollführte eine vage Geste mit der Hand. »Aber die Mathematiker haben zwischen den Zahlen Beziehungen entdeckt, die dergestalt sind, wie man sie braucht, um die Wurzel aus einer negativen Zahl zu ziehen. Und wenn man mit dieser Zahl dann weiterrechnet, bekommt man Zahlen heraus, die in der realen Welt existieren.«
Alcyone sah zum ersten Mal, seit er sie kennengelernt hatte, so aus, als fühle sie sich wohl in ihrer Haut.
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