Nacht des Verfuehrers - Roman
befreit und gleichzeitig seltsam nackt. Sie legte ihn in die Schublade ihres Toilettentisches. Während sie ihre Garderobe durchging, stellte sie mit einem Anflug von schwarzem Humor fest, wie viel unbrauchbare Kleidung sie besaß. Dinnergarderobe und Ballkleider, Vormittags- und Nachmittagsgewänder,
Kleider für den Tee, für die Kutschfahrt, für die Oper – jedoch kein Einziges, um dem Ehemann davonzulaufen.
Sie zog eines ihrer beiden Reitkostüme an – das mit den goldenen Tressen – und faltete das andere zusammen, um es in ihrem Reisesack zu verstauen. Sie legte drei besonders warme Unterröcke dazu, ihren Umhang sowie ihren dicksten Schal, denn die Nächte waren innerhalb von einer Woche nach Ernteschluss frostig geworden. Decken waren vonnöten, und sie machte auch Platz für ihr schwerstes Kutschkostüm und ein Schmuckset aus schwarzem Bernstein. Sie wollte bei der Ankunft in Orsova einigermaßen präsentabel aussehen, von Genf ganz zu schweigen. Kerzen, eine Zunderschachtel, Nähzeug, Haarbürsten und Haarnadeln, fünf Paar dicke Wollstrümpfe, zwei Paar zusätzliche Handschuhe – das alles türmte sich in dem Reisesack.
Plötzlich fielen Alcy Dumitrus Geschichten von den Hajduken-Banditen wieder ein. Sie zögerte einen Augenblick, doch dann holte sie den großen mit Quasten behängten Dolch aus seinem Schlafzimmer und auch die Pistole, die er in seinem Toilettentisch verwahrte. Sie wusste nicht, wie man mit so einem Ding umging, aber die schwere Waffe fühlte sich dennoch beruhigend an. Sie starrte eine Weile ihre Bücher und Aufzeichnungen an, dann zwang sie sich schweren Herzens, sie zurückzulassen. Die wichtigsten Notizen bat sie Celeste, unter der Matratze zu verstecken, falls Dumitru seinen Zorn an ihren Unterlagen austoben wollte.
Als der volle Sack schließlich zugeschnürt war, gab es für Alcy nichts mehr zu tun, als Celeste in die Küche zu
schicken und auf sie zu warten. Sie ließ sich einfach niedergeschlagen auf das große Himmelbett sinken, das den ganzen Raum beherrschte. Ein Bett, zu dem ihr absolut nichts einfiel, denn sie hatte keine einzige Nacht darin verbracht, seit sie in Severinor angekommen war. Der Gedanke führte unausweichlich zu Hunderten von Erinnerungen. Dumitru, der sie küsste, festhielt, sie liebte. Ihr Verstand schreckte förmlich zurück, denn das waren nun Erinnerungen, die der Vergangenheit angehörten und die mit der Zukunft nichts mehr zu tun hatten.
Ihrer Zukunft. Was sollte aus ihr werden? Man konnte nie wissen. Alles hing davon ab, dass sie Genf erreichte, aber abgesehen davon war ihr Leben ein leeres Blatt. Annullierung, London, Leeds – all das schien so unmöglich, dass ihr Verstand revoltierte.
Also dachte sie fiebrig über die Gegenwart nach – wie sie nach Orsova gelangen könnte, wie sie jemanden auftreiben sollte, der Deutsch oder zumindest Walachisch sprach, wie sie für Celeste vorsorgen sollte, wie lange sie nach Genf brauchen würde. Doch über all dem lag ein einziger Gedanke, der rastlos widerhallte – wie das endlose, gnadenlose Stampfen eines Kolbens, getrieben von der Ungeheuerlichkeit der Tat, die ihr Ehemann verübt hatte – er hat mich betrogen, er hat mich betrogen, er hat mich betrogen …
Alcy schlang die Arme fest um ihren Rumpf, drückte die immer wiederkehrende Welle aus Schmerz zu einem festen Knoten zusammen. Sie hatte gehört, dass Kohle und Diamant aus demselben Material bestanden, nur war der Diamant solch unglaublichen Druckkräften ausgesetzt gewesen, dass seine gesamte Natur transformiert worden
war. Und genau das geschah jetzt mit ihr. Ihr weiches, verletzliches Fleisch verwandelte sich in einen glitzernden, harten und scharfkantigen Brocken, der so eiskalt wie der Winter war und den heißen Schmerz und Zorn aufsog. Und immer noch tönte die Litanei durch ihren Schädel, als wolle sie ihn platzen lassen:
Er hat mich betrogen.
Alcy wusste nicht, wie viel später es war, als die Tür aufging. Ein Augenblick nur oder eine Ewigkeit? Als sie zu sich kam, lag sie auf dem Rücken im Bett, ausgelaugt, leer und mit einem schmerzenden Knoten im Inneren, der wie ein kleiner Stern pulsierte. Sie richtete sich hastig auf. Celeste stand unter der Tür, den Arm voller Pakete und die Miene voller Mitgefühl.
»Madame -«, sagte sie mit brüchiger Stimme und machte eine zögerliche Handbewegung in Alcys Richtung. Alcy wusste, dass die Zofe sie am liebsten umarmt hätte, sie gern wie eine Mutter, eine Krankenschwester, eine
Weitere Kostenlose Bücher