Nacht in Havanna
meint, die Geschichte hätte uns zurückgelassen. O nein! Kuba ist der Motor der Geschichte. Kuba wird weiter Geschichte machen, und dafür brauchen wir keine Belehrungen von unseren früheren Genossen. Das habe ich auch Ihrer Botschaft erklärt.«
Arcos hatte sich dermaßen in Rage geredet, daß sein Gesicht verkniffen war wie eine geballte Faust. Sein schwarzer Sargento Luna lümmelte neben ihm, gleichzeitig gefährlich und gelangweilt. Renko saß, in seinen Mantel gewickelt, ruhig da. Rufo lag in einem silbrigen Jogginganzug auf dem Boden, den Blick auf die Spritze gerichtet, die er mit der linken Hand umklammert hielt. Ofelia war erstaunt, daß keine Kriminaltechniker am Tatort waren. Wo war die übliche Betriebsamkeit von Videofilmern und Lichttechnikern, wo waren die Spurensicherung oder weitere Ermittler? Obwohl sie die Autorität der beiden Männer aus dem Ministerium nicht in Frage stellte, zog sie demonstrativ laut ihre Gummihandschuhe über.
»Der Capitán spricht auch russisch«, erklärte Renko Ofelia. »Es ist ein Abend voller Überraschungen.«
Arcos war etwa Mitte Vierzig, schätzte Ofelia, exakt die Generation, die ihre Jugend damit vergeudet hatte, Russisch zu lernen, und seitdem verbittert war.
»Was er sagt, ist jedoch nicht von der Hand zu weisen«, fuhr Renko fort. »Meine Botschaft scheint in der Tat nicht geneigt, mir zu helfen.«
»Die Aussage, die er gemacht hat, ist unglaubwürdig«, sagte Arcos. »Er behauptet, Rufo Pinero, ein Mann ohne jede Vorstrafe, ein allseits geehrter kubanischer Sportler, Fahrer und Dolmetscher für Renkos eigene Botschaft, habe ihm Zigarren verkaufen wollen und sei, nachdem er abgewiesen wurde, in dieses Apartment zurückgekommen, um Renko ohne jede Vorwarnung oder Provokation mit zwei Waffen gleichzeitig, einem Messer und einer Spritze, anzugreifen. Und dann soll er sich die Spritze in dem anschließenden Gerangel auch noch aus Versehen selbst in den Kopf gebohrt haben.«
»Gibt es irgendwelche Zeugen?« fragte Ofelia. »Noch nicht«, sagte Arcos, als ob er hoffte, noch einen auszugraben.
Ofelia hatte noch nie mit dem Capitán gearbeitet, doch sie kannte diesen Typ: eher ein verschlagener Taktiker als ein guter Ermittler und weit über seine persönlichen Fähigkeiten hinaus aufgestiegen. Von Luna durfte sie ebenfalls keine Hilfe erwarten; der Sargento schien jedem, einschließlich Arcos, mit der gleichen Mißachtung zu begegnen.
Sie zog den Reißverschluß von Rufos Jogginganzug herunter und stellte fest, daß er darunter noch immer das Hemd und die Hose trug, die er im IML getragen hatte, was bei dem warmen Wetter wenig Sinn ergab. In seiner Hemdtasche steckten eine Plastikhülle und ein Ausweis, auf dem stand: Rufo Perez Pinero; Fecha de Nacimiento: 2/6/56; Cargo: traductor; Casado: no; Direccion: 155 Esperanza, La Habana; Status Militär: reserva; hemotipo: B. In der Ecke klebte das Foto eines jüngeren, schlankeren Rufo. In derselben Hülle steckte ein Lebensmittelheft mit Spalten für die einzelnen Monate und Reihen für Reis, Fleisch und Bohnen. Sie leerte die Dollars, Pesos sowie Haus- und Wagenschlüssel aus Rufos Taschen, wobei sie alles nur vorsichtig an einer Ecke anfaßte. Sie meinte sich zu erinnern, daß er auch ein Feuerzeug besessen hatte. So etwas fiel Kubanern auf. Aus irgendeinem Grund war sie außerdem davon überzeugt, daß der Russe Rufos Tachen schon durchsucht hatte, weshalb sie nichts finden würde, was er nicht schon gesehen hatte.
»Hat die Ermittlung jetzt angefangen?« fragte Renko. »Es wird eine Ermittlung geben«, versprach Arcos, »die Frage ist nur, von was. Alles, was Sie tun, ist verdächtig: Ihre Haltung gegenüber der kubanischen Autorität, Ihre Weigerung, die Leiche eines russischen Kollegen zu identifizieren, und jetzt dieser Angriff auf Rufo Pinero.«
»Mein Angriff auf Rufo?«
»Rufo ist schließlich derjenige, der tot ist«, beharrte Arcos. »Der Capitán glaubt, ich sei aus Moskau gekommen, um Rufo zu attackieren?« fragte Renko Ofelia. »Erst Pribluda und jetzt ich. Wenn das keine Ermittlung wert ist, wird dann hier überhaupt ermittelt?«
Ofelia war unglücklich, weil die Grundregel für einen Mord lautete, den Tatort möglichst unverzüglich auf Spuren zu untersuchen, während Luna noch gar nichts getan hatte. Sie trat einen Schritt zurück, um die Szenerie im ganzen zu betrachten, und sah das Messer, das in Brusthöhe im Seitenteil eines hölzernen Bücherschranks steckte, in dem jedoch kein einziges
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